Critical Mass Radio

Critical Mass RadioNein, es ist leider nicht mein Radio, vielleicht ist es der Soundtrack zu diesem Blog. Aber, man soll sich schließlich nicht so wichtig nehmen.

Die Hinweis darauf vedanke ich dem unerbittlichen Quirinus und seiner “Demokratie und Alltag”. Zum “Critical Mass Radio” geht's hier lang.

Und das bringt mich gleich zu Hartz IV bis Merkel (oder Fischer) I zurück. Einer der vielleicht doch unbekannteren Nationalökonomen, Karl Polanyi hat in “The Great Transformation — Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen” (1944) reichlich Material gesammelt über den Pauperismus im England des 17. und 18. Jahrhunderts. Darin erwähnt er unter anderem eine Idee Benthams.

Jeremy Bentham, einer der fruchtbarsten Entwickler sozialer Projekte, kam genau 100 Jahre später auf den Gedanken, Pauper in großer Zahl zum Antrieb von Holz- und Metallbearbeitungsmaschinen einzusetzen, die sein noch erfindungsreicherer Bruder Samuel entworfen hatte. »Bentham«, sagt Sir Leslie Stephen, »hatte sich mit seinem Bruder zusammengetan, und sie sahen sich nach einer Dampfmaschine um. Es ist ihnen nun eingefallen, anstelle von Dampf Sträflinge zu verwenden«. Das war 1794. Jeremy Benthams panoptisches System, mit dessen Hilfe Gefängnisse so angelegt werden konnten, daß sie billig waren und wirksam überwacht werden konnten, hatte bereits einige Jahre lang vorgelegen, und nun beschloß er, es auf seine von Sträflingen betriebene Fabrik anzuwenden; an die Stelle von Sträflingen sollten die Armen treten. Bald entwickelten sich die privaten Geschäftsunternehmen der Brüder Bentham zu einem allgemeinen Plan zur Lösung der sozialen Frage schlechthin. (S. 151).

Polanyi meint nun, dass das alles nicht funktionieren kann und zitiert in diesem Zusammenhang den an den Pranger gestellten Journalisten und Zyniker (O-Ton Polanyi) Defoe (ja, das ist der mit Robinson Crusoe).

Der ökonomische Grund, warum man an Paupern kein Geld verdienen konnte, hätte kein Geheimnis sein sollen. Er wurde fast hundertfünfzig Jahre zuvor von Daniel Defoe genannt, dessen 1704 veröffentlichtes Pamphlet die von Bellers und Locke begonnene Diskussion zum Stillstand brachte. Defoe wies darauf hin, daß die Armen, wenn sie Unterstützung erhielten, nicht für Löhne arbeiten würden, und daß sie, wenn man sie zum Zweck der Güterproduktion in öffentliche Institutionen steckte, bloß mehr Arbeitslosigkeit in den privaten Manufakturen bewirken würden. Sein Pamphlet trug den satanischen Titel: »Almosen sind keine Wohltat, und die Beschäftigung der Armen ist ein Übelstand der Nation« … (S. 154)

Gewisse Parallelen zur gegenwärtigen Situation hier sind gewiss nicht zu übersehen. Polanyi kommt dabei nicht zu einem Ergebnis oder zu einem Lösungsansatz, dazu ist er hier zu sehr kritischer Historiker. Von Bellers und Defoe “wurden um die Wende des 17. Jahrhunderts jene Probleme aufgezeigt, zu deren schwieriger Lösung mehr als zwei Jahrhunderte der Arbeit und des Denkens, der Hoffnung und des Leidens vergehen mußten” (S. 155).

Gerade Bentham, der offenbar auf der einen Seite sich als großer “Reformer” zeigte …

Er förderte die verschiedensten Pläne wie zum Beispiel: ein verbessertes Patentwesen; Gesellschaften mit beschränkter Haftung; eine alle zehn Jahre durchzuführende Volkszählung: die Errichtung eines Gesundheitsministeriums; … Kühlhäuser für Obst und Gemüse; … ein allgemeines Grundbuch; ein öffentliches Rechnungswesen; eine Reform des Unterrichtswesens … (S. 170)

bestand auf der Notwendigkeit der Armut, wie Polanyi ausführt:

Bentham glaubte, daß die Armut ein Teil des Überflusses sei. »Im höchsten Stadium des gesellschaftlichen Wohlstandes«, sagte er, »wird die große Masse der Bürger höchstwahrscheinlich wenig mehr besitzen als ihre tägliche Arbeitskraft, und wird sich daher immer am Rand der Not befinden …« Daher empfahl er, daß »ein regelmäßiger Beitrag zur Linderung der Not der Bedürftigen geschaffen werde«, obwohl dadurch »theoretisch Not und damit auch Fleiß verringert würden«, wie er bedauernd hinzufügte, da es, vom utilitaristischen Standpunkt gesehen, Aufgabe der Regierung sei, die Not zu vergrößern, und damit das physische Druckmittel Hunger wirksam werden zu lassen. (S. 165)

Wie das im 19. Jahrhundert aussah, hat Friedrich Engels in seiner Reportage aus den Slums von London, Birmingham, Leeds und Manchester deutlich beschrieben (siehe hier und siehe da).

Von der Bildung einer “Kritischen Masse” sind wir hier aber einstweilen weit entfernt. Die Demonstrationen am Montag mit dem Spruche von “Wir sind das Volk” sind nicht genau umrissen. So sehr es darin gärt, so unkontrolliert und diffus scheinen die sich darin ausdrückenden Emotionen und Argumente. Aus dem “Volk” kann schnell das “Völkische” werden, jene dumpfe, nicht kritische Masse. Aus der Masse wird allzu schnell eine “verführbare” Masse. Auch daran trägt aber nicht die Masse die Schuld, sondern alles, was sie in diese manchmal geradezu ausweglose Situation drängenden Bedingungen bringt und sie darin festhält. “Wir sind das Volk” klingt oft einfach nur herz- und hirnlos. Es scheint mir sogar doppelt gebrochen und gelogen. “Wir sind der Staat” brächte mehr politisches Eingeständnis auf den Punkt. In dem Moment, wo man diese Idee aufgibt, und sich nicht als aktiver Teil von Politik versteht sondern “nur” als Opfer, entledigt man sich einer Chance, Politik selbst zu gestalten. Wenn das aber der Fall sein sollte, dann sind sowieso Hopfen und Malz verloren. Dann kann man den Laden dicht machen.

Grundgesetz: Artikel 20 [Staatsstrukturprinzipien; Widerstandsrecht]
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
(2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

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Kommentare

Fein, daß du's gleich

Fein, daß du's gleich gesehen hast. Gute Vernetzung eben. (Leider haben die heut nacht die ganze Zeit nur Elektrozeug & Dub gespielt - war auf die Dauer´n büschen lahm. Aber auch interessant, sowas live from NY zu hören.))