Wenn der Mensch sie will, kommt auch die Kunst

Wie man das Tautologische an der Musikvermittlung verhindert

Das Thema „Musikvermittlung“ steht mittlerweile ununterbrochen auf der Agenda von Musikpädagogen, von Musikverbänden und musikalischen Institutionen. Anlässlich des 50. Geburtstages der neuen musikzeitung hatte man sogar eine Rubrik mit dem Titel „Musikvermittlung“ eingerichtet. Initiativen von Verbänden sind vielfältig, Orchester und Bühnen unternehmen unterschiedlichste Versuche, Musik zu vermitteln. Musik vermittelt wird freilich auch ohne diese Intitiativen fortlaufend. Das Radio vermittelt Musik, das Fernsehen vermittelt Musik. Musik muss an den Mann und die Frau, an Kinder wie an Menschen älteren Semesters gebracht werden.

Dahinter stehen häufig auch ökonomische Absichten, aber das ist nicht überall der Fall und nicht wesentlich. Dabei hat man jedoch lange Zeit vergessen oder weggeblendet, was hier an wen und wieso vermittelt werden müsse. Hat Musik Vermittlung überhaupt nötig, oder ist sie nicht vielmehr selbst schon ein Vermittlungsorgan? Sie vermittelt innerhalb der Gesellschaft deren Mitglieder untereinander. Musik ist nämlich doch Vermittlung an sich, vermittelte Musik dagegen wird schnell nur zu einer Musikvermittlungsmusik. Und darin könnte ein Bruchpunkt der gegenwärtigen Situation und Bedeutung von Musik in der Gesellschaft liegen. Sie scheint nicht mehr ein Wert an sich zu sein und sie hat selbst offenbar kaum noch genug bindende Kraft für sich.

Theo Geißler mahnte im November 2004 hier (nmz 11/2004, Seite 25) und vor der Generalversammlung des Deutschen Musikrats an, dass man das Feld der Musik-Vermittlung weiter denken müsse als es bisher geschehe. Martin Tröndle hat einige Monate später an Geißler anschließend in der nmz geäußert, „Musikvermittlung heißt deshalb auch der Musik Gehör verschaffen“ (nmz 06/2005, Seite 24). Damit ist aber ein Wesentliches verkannt, dass nicht Musik vermittelt werden muss, sondern dass sich Menschen mittels Musik ausdrücken und miteinander kommunizieren. Musik ist im besten Sinne Vermittlung an sich. Deshalb sei auf eine Fragestellung verwiesen, die nicht aus der Musikpädagogik und -didaktik stammt, sondern aus der politischen Ästhetik.

Der Autor und Büchner-Preisträger Peter Weiss hat in seinem Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ mehrfach darauf hingewiesen, dass Kunst und Menschen in einer permanenten Wechselwirkung stehen – in gegenseitiger Zuteilung und Forderung. Nicht die Kunst selbst ist zu vermitteln, sondern der Mensch, der sich selbst rückwirkend in Kunst und durch sie vermittelt. Weiss schrieb: „Auch uns, so war es von fortschrittlicher Seite zu vernehmen, sollte das, was sich Kultur nannte, zugute kommen, (...) doch gelangten wir damit noch nicht zu einem Bild, das uns selbst enthielt (...). Es hing damit zusammen, (...) dass uns von außen her, von oben her, nichts beeindrucken konnte, solange wir gefangen gehalten wurden, jeder Versuch, uns einen Ausblick zu schenken, konnte nur peinlich sein, wir wollten keine Zuteilungen, kein uns zugemessenes Stückwerk, sondern das Ganze. (...) Alles, was auf Gedichte, Romane, Gemälde, Skulpturen, Musikstücke, Filme und Dramen Bezug nahm, musste erst politisch durchdacht werden. Dies war ein Umhertasten, wir wussten noch nicht, wozu das Aufgefundene gut sein sollte, verstanden nur, dass es, um sinnvoll zu werden, aus uns selbst kommen musste“ (Seite 55f.).

Gerade dies scheint vollkommen aus dem Blickfeld geraten zu sein: dass nämlich Kunst auf Menschen fällt, die etwas von Kunst wollen und nicht umgekehrt, dass man sie mit Kunst beschäftigt, ablenkt oder gar ideologisch ein- und zurichtet. Die Vermittlung von Kunst muss aus den Menschen selbst kommen. Die von Weiss angesprochene Situation spielte in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts, als man noch einigermaßen sinnvoll von politischen Klassen sprechen konnte, ferner in einer Zeit, als die spätbürgerliche Kunstauffassung vorherrschend war; als Kunst vorrangig als bloß schöner Schein und Kulturleistung ohne nähere Bestimmung definiert war. Kunst musste nutz- und haltbar gemacht werden, soll sie nicht auf den Zustand purer Dekoration oder magischer Norm zurückfallen. Heute dagegen stellt es sich vielmehr so dar, dass die Gesellschaft zu einem homogenen Block zusammengeschrumpft ist, der sich allein im Warenkonsumismus und damit auch im Kunstkonsumismus verwirklicht – und dann freilich stehen MTV-Spots neben und gegen „Konzerte für Kinder“. Auch gibt es weder das Proletariat wie in dem Roman von Peter Weiss, noch gibt es die bürgerliche Kultur der öffentlichen Selbstverständigung vermittels Kunst. Diese Institutionen scheinen tot. Damit wird Kunst zum bloßen Objekt der Spekulation, so wie man mit Kapital spekulieren kann. Kulturmanagement heißt dafür die gefundene schlechte Umgangsform. Kulturspekulantentum wäre ein weitaus treffenderer Begriff. Musikvermittlung, die nur Töne vermittelt, aber nicht die Kunst und ihre Sprengkraft, ist eine Spielart davon.

So verwundert einen auch nicht die neuerliche Diskussion um den Begriff einer Leitkultur. Denn wenn die Gesellschaft sich ihre Kultur aus ihrer eigenen Notwendigkeit heraus nicht mehr bilden kann oder sie ihr durch Privatisierung entrissen wird, dann muss auch diese erst von oben definiert oder vom Markt als seiner Leistung verkauft werden. Die Diskussion um die Studie zur musikalischen Bildungsoffensive der Konrad-Adenauer-Stiftung mit ihrem Leitwerke-Kanon legt davon beredtes Zeugnis ab. Der Kulturkritiker Matthias Greffrath hat kürzlich in einem Radio-Essay mit dem Titel „Der Geist der Leitkultur“ diese aktuelle Situation erfasst. Wer in der Bundesrepublik Deutschland sozialisiert wurde, dem will es, sagt Greffrath, „schlechterdings nicht in den Kopf, dass der Staat nicht einmal mehr die Mittel aufbringt für ein Bildungswesen, das alle jungen Bürger für die Anforderungen der Wissensgesellschaft vorbereitet. Dass am Ende von 100 Jahren kollektiver Arbeit die städtischen Einrichtungen verkauft werden, dass ein Bad- vier, ein Zoobesuch siebzehn Euro kostet, dass Autobahnen privatisiert werden und dass das Volksparkstadion jetzt AOL-Arena heißt. Kurz: Dass der öffentliche Reichtum, der mit den Steuergeldern von Generationen angeschafft wurde, verkauft wird, während gleichzeitig die Profite der Exportindustrie zweistellig wachsen, die Löhne sinken und die Steuerbelastung der Unternehmen und des Mittelstandes fällt. (...) Nicht die Höhe von Hartz IV ist der Zynismus unserer Gegenwart. Der besteht darin, dass Millionen von Menschen unter ihren menschlichen Möglichkeiten leben, dass wir es uns leisten, nach über 200 Jahren industriellen Fortschritts und öffentlicher Erziehung die sozialen Gestalten des Wanderarbeiters, des Dienstmädchens, des Tagelöhners und des Fürsorgeempfängers wieder zum Leben zu erwecken und die Schulen der Nation verkommen lassen.“

Schulen der Nation, das ist sicher etwas, was man noch im besten Sinne den Initiativen zur Musikvermittlung beistellen kann. Wenn man am Tag der Offenen Tür der Berliner Philharmoniker erleben kann, dass es erstens ein Interesse an dieser Musikkultur gibt, und dass man zweitens sieht, dass die Institution im gesellschaftlichen Leben angekommen ist.

Die Räume und Veranstaltungen dieses offenen Tages waren durchweg gut besucht. Aber es fehlte in einem guten Sinne der vermittelnde Zeigefinger. Die Institution gibt etwas zurück, was sie vordem erhalten hatte: Vertrauen und Kunst. Und das Publikum holt sich zurück, wonach es ihm dürstet: Kunst, Sinnlichkeit, Aufmerksamkeit, Vergnügen und Glück. Es, das Publikum, erobert sich die Kunst zurück, sie empfängt es nicht als Almosengabe aus den Händen von gutmeinend-menschelnden Pädagogen oder Kulturvermarktern.

So auch darf man die Intiative „Zukunftsmusiker“ des dm-Markt-Chefs, Götz Werner, verstehen. Als Bürger dieses Staates sieht er sich in einer selbstgewählten Bringschuld und er versucht mit dieser Initiative Instrumentalunterricht kostenlos anzubieten. Wohlwissend, dass Musik als auch bürgerschaftlich vermittelnde Institution des Gemeinwesens, zu geistigem und physischen Wohlergehen, nicht nur der Einzelnen sondern Aller, beitragen kann.

„Hartz IV ist offener Strafvollzug. Es ist die Beraubung von Freiheitsrechten. Hartz IV quält die Menschen, zerstört ihre Kreativität“, schimpft er in einem Stern-Interview. Während die bloß musikvermittelnden Pädagogen einfach zu kurz greifen, gehen die Schrauben der Politik bereits viel zu tief hinein in das Herz einer bürgerschaftlichen Gemeinschaft und zerstören nachhaltig ererbtes Kultur- und Kunstverständnis – und damit Selbstverständnis.

Von den öffentlichen Institutionen wie dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist leider auch kaum mehr etwas zu erwarten, wenn sie sich weiter zu einer inhaltsleeren, von Meinungsforschungsinstituten und Unternehmensberatern zur Kulturbürokratie degradieren lassen.

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