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Quelle:
neue musikzeitung

Medien

Jahr 1999
Ausgabe 10
Seite 9
nmz-online

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Der innere Browning oder: Mit Musik im Bilde

© 1999 by Martin Hufner (EMail)


Gegenwärtige Analysen zur Musikkultur in der Medienwelt

„Wie kommt es, dass immer mehr Deutsche Marshall Göring zustimmen, der sich seinerzeit brüstete, ‚Wenn ich das Wort Kultur höre, ziehe ich meinen Browning‘? Was ist geschehen, dass – wir reden von den Massenmedien – die Massen flüchten, wenn Kultur angesagt ist? Hat sich die Gesellschaft geändert – oder gar die menschliche Gattung? Oder stimmt das alles gar nicht?“ fragt sich in dem bei Suhrkamp erschienenen Buch „Televisionen“ Volker Panzer, Leiter und Moderator der Sendung nachtstudio im ZDF.

Mit Bezug auf Statistiken des Allensbacher Meinungsforschungsinstituts kann er feststellen, es stimmt nicht – jedenfalls nicht so: „Erstaunlicherweise stellte sich immer wieder heraus – minimale Schwankungen übersehen wir –, dass grob ein Drittel der Befragten sich für Angebote der „Kulturindustrie“ nicht nur interessiert, sondern sie auch wahrnimmt: Und so weiß mittlerweile jeder, dass jährlich mehr Menschen Museen besuchen als Fußballstadien.“ Nur, in den Massenmedien bildet sich dieses Interesse nicht ab. Für exklusive Konzertübertragungen würde kein Murdoch einen Fernsehsender „opfern“. Wird also Kultur im Fernsehen schlecht verkauft oder, was heute fast das Gleiche heißt, lässt sie sich nur so schlecht verkaufen? Panzer kann einerseits bemerken, dass rein quantitativ momentan mehr „Kultur“ im Fernsehen stattfindet als früher, allerdings werde weniger Publikum erreicht. Er meint, es liege vor allem daran, dass diese Kulturprogramme in „Kulturprogramme“ (3sat, arte) abgeschoben werden und dort ihr exquisites Leben als „Studienratssystem“ (Panzer) führen: „Wenn Kulturdokumentationen – wie zuletzt aus der Reihe Terra X oder Sphinx des ZDF – in ‚arte‘ wiederholt werden, sprengen sie mit 300.000 Zuschauern alle dort geltenden Rekorde – im Hauptprogramm erreichen solche Sendungen bis zu fünf Millionen Zuschauer.“ Das ist seine Diagnose, die eigentlich nicht verwundert, aber doch überraschend ausfällt. Wenn man davon ausgeht, dass durch die vielen Spartenprogramme immer mehr einzelne Bedürfnisse befriedigt werden können, so heißt das auf dem Umweg, dass bestimmte Bedürfnisse leichter befriedigt werden können und daher besser angenommen werden; zumal wenn sie am richtigen Platze sind (Fußball und Ficken, Mord und Totschlag).

Im Umkehrschluss kommt man aber auch zu interessanten Ergebnissen: Gerade weil die Kulturlandschaft so differenziert ist, verteilt sich das Publikum ebenso differenziert. Anzunehmen ist ferner, dass es beim „Kulturseher“ zu qualitativ begründeten Einschaltquoten kommt (man sieht eben nur Bestimmtes, dieses aber dann bestimmt). Politische Magazine oder Kultursendungen funktionieren nicht als Tagesbegleitmedium, wie es Barbara Sichtermann in einem anderen Aufsatz dieser Publikation sagt. Das Fernsehen habe sich ebenso wie der Hörfunk vom „Ereignismedium“ zum „Tagesbegleitmedium“ gewandelt. Nicht ohne Ironie legt sie den Zeitpunkt dieses Wechsels auf das Orwell-Jahr fest: 1984. Es ist das Jahr in dem die Privatisierung der Fernsehkanäle einsetzt. In diesem Moment kommt die Werbung als Finanzierungsmodell für öffentliches Bewusstsein ins Spiel. Darin sieht sie einen Punkt des Wandels: „Werbung will Aufmerksamkeit stehlen. Der Konsument weiß das und wehrt sich durch Herabsetzen des Konzentrationsgrades.“ Eine Folge daraus: Fernsehen wird zum „Quasi-Radio“: „Die Glotze läuft – und es guckt kein Schwein.“ Das neue Ereignismedium macht sie im Internet aus.

Zurück zur Musik. Eine andere Publikation bei Suhrkamp setzt sich mit den Musikspartenkanälen auseinander. In „Viva MTV!“ wird die Entwicklung von MTV und Viva (nebst Abstechern zu VH-1 und Viva 2) nachgezeichnet und mediensoziologisch untersucht. Hinzu kommen Analysen von Videoclips und ein Bericht zu qualitativen Untersuchungen ihres (jugendlichen) Publikums. Das ganze Forschungsfeld steckt noch in den Kinderschuhen, verlässliche Daten gibt es nur wenige und die „deutsche“ Musikwissenschaft zeigt sich an solchen Fragen mit wenigen Ausnahmen (insbesondere Altrogge, Behne, Bastian, Kleinen, Münch und der Berliner Kreis um Peter Wicke) desinteressiert. Das hat pragmatische Gründe (man müss-te schließlich methodische Grundlagenforschung betreiben), liegt aber auch in der Sache begründet, dass Videoclip-Theorie sich mit schnell vergänglichem Material befasst. Zahlreiche analysierte Videoclips sind aus dem optischen Gedächtnis verschwunden. Man weiß einfach nicht (oder zu gut) auf welche Probleme man sich einlässt. Daher überwiegen gewöhnlich soziologische Ansatzpunkte, dingfest gemacht an Ikonen der Popmusik der letzten Jahre (Madonna, Prince, Michael Jackson). Soll man sich also auf die künstlerischen Videos mancher Alternative-Music-Bands stürzen, oder besser der Reihe nach die Videos von „Mr. President“ abklappern und vor allem: Was hätte man davon?

Ja, die Medienwelt ist komplex und gerade im Bereich der Videoclips kommt es zu einer „eigenartigen Mischung aus klassischer Hochkultur, Avantgarde und klassischer Moderne, Populär- und Jugendkultur“, schreiben Klaus Neumann-Braun und Axel Schmidt in ihrem Einführungstext und Literaturbericht mit dem Titel „McMusic“. Man kann sich des Verdachts nicht erwehren, dass in der Videoclip-Ästhetik und -Medienwelt die Ideen der Postmoderne als bloße Pose weiterleben. Der Begriff der „Postmoderne“ darf in diesem Zusammenhang heißen, dass man es aufgegeben hat, nach den Gründen oder Ursachen der Phänomene zu suchen und damit vor der forschungstheoretischen Konstellation kapituliert – freilich nicht ohne andauernd mit den Augen ironisch zu zwinkern. Damit macht man es sich vielleicht zu einfach, vielleicht ist es im Zeitalter der neuen Unübersichtlichkeit adäquat. Doch man sollte diese Ratlosigkeit dokumentieren und nicht vor den theoretischen Perspektiven die Augen verschließen – sich nicht am Kamin gemütlich hinter einer Wagner-Oper verstecken.

Martin Hufne