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Taktlos No. 1 (Januar)
Musik & Zither

Sendetermin: 9.1.1998 / 20:05 Bayern2Radio
Website taktlos

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Streiken gegen Reformstau und repressive Toleranz

© 1998 by Martin Hufner (EMail) und Olaf Roßbach

„Macht uns die Musik, die wir hören, Schweigen?“ ·
Musikstudierende zwischen Ellenbogen und Engagement

Vorurteile und Stereotypen

Wenn die arbeitende Bevölkerung streikt, dann wird in den Nachrichten von Nachtpokerrunden, Urabstimmungen, politischem Gezanke und je nach streikendem Bevölkerungsteil von Staus, überquellenden Papierkörben, geschlossenen Bankenfilialen und anderen aufsehenerregenden Dingen gesprochen. Wenn Studierende streiken, dann liegt über der Berichterstattung ein Hauch von Absurdität. Überall gibt es Solidarisierung von Politikern bis hin zu Professoren. Statt Staus gibt es öffentliche Vorlesungen in den Fußgängerzonen und jede Woche wenigstens eine Demonstration, stadtweit, landesweit oder deutschlandweit.

Die Absurdität stammt von der Vorstellung, Studierende können einfach nicht streiken. Das sei schon rein logisch nicht möglich. Die alte Maxime: „Wenn unser starker Arm es will, stehen alle Räder still", gilt offenbar nicht für die angehenden Absolventen von Universitäten und Hochschulen. Zumindest müßte man mit einer Zeitverzögerung von mehreren Jahren rechnen.

Und weil dem so ist, und weil es keine festen Arbeitskampfstrukturen mit runden Tischen und Nachtsitzungen, Vermittlern undsoweiter gibt, stehen diese Veranstaltungen der Studierenden immer unter Verdacht, rundweg unpolitisch zu sein; eben eine kleine Abwechselung aus dem tristen Uni-Leben.

Anstoß

Der letzte und auch jetzt noch aktive Studentenstreik begann ja eigentlich ganz lapidar. In Gießen wollten 600 Erstsemester der Pädagogik in eine Seminar besuchen, das nur für 60 Leute gedacht war. Das ist aber in der deutschen Hochschullandschaft kein neues und einmaliges Phänomen.

Beispiel Berlin

Die Dramatik der Bildungsmisere im Hochschulbereich läßt sich stellvertretend an der Entwicklung der Berliner Hochschullandschaft innerhalb der letzten sechs Jahre aufzeigen. Auf allen Ebenen werden Sachmittel reduziert. Ein Abbau des Personalbestandes im allgemeinen ist zu verzeichnen. Hingegen sind bekanntermaßen die Studentenzahlen keinesweg rückläufig. Schlimm genug. Aber das ist ja nicht alles. Dieser Prozeß geht einher mit einer Umverteilung von Status und Umfang der Beschäftigung, die sich am deutlichsten bei den wissenschaftlichen und künstlerischen Mitarbeitern auswirkt. Ein paar Zahlen mögen das belegen: So stieg an den Berliner Hochschulen die Anzahl der Vollzeitbeschäftigten mit befristeten Verträgen im akademischen Mittelbau in den Jahren von 1992 bis 1996 von 58 auf 69 Prozent. Dies geht einher mit der Umstrukturierung von Vollzeit- zu Teilzeitverträgen (siehe Abbildungen 1 und 2).

Schleichender Abbau in der Lehre durch Umverteilung der Dienstzeiten im akademischen Mittelbau, der die Hauptlast in der Lehre und Ausbildung von Studierenden leistet.
Abbildung 1
Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigung im akdemischen Mittelbau (Hochschulen Berlin)
Quelle: GEW Berlin
Abbau der Stellen im akdemischen Mittelbau und Umverteilung der Arbeit von Vollzeit- zu Teilzeitbeschäftigung.

Abbildung 2

Teilzeitbeschäftigte wissenschaftliche und künstlerische Mitarbeiter/innen
Umverteilung der Beschäftigungsdauer bei den wissenschaftlichen und künstlerischen Mitarbeitern an den Berliner Hochschulen.

Quelle: GEW Berlin

Im gleichen Zeitraum nahm die Anzahl der studentischen Beschäftigten dramatisch ab. Allein an der Technischen Universität sank die Anzahl der studentischen Beschäftigten um fast 1.000 Stellen von knapp 2500 auf 1500 Personen. Das entspricht einem prozentualen Rückgang von vierzig Prozent! Da muß man sich wirklich nicht wundern, wenn für immer mehr Studenten immer weniger Professoren, Dozenten, Assistenten und Tutoren zur Verfügung stehen. Mit anderen Worten: Die Gegenwart der Studenten macht mittlerweile die Lehre so schwer. Der offenbar unbeschwerte Umgang der Politik mit diesem Phänomen ist der Skandal. Oder wie die Wochzeitschrift „DIE ZEIT" titelte: „Im Grunde streiken nicht die Studenten, sondern die Politiker."

Man hat auf Seiten der Hochschulgesetzgebung einfach seine Hausaufgaben schlecht gemacht und nur technisch-formale Regularien entwickelt. Das heißt, es geht nur ums Geld. Die eigentlich notwendige inhaltliche Arbeit erledigen darum jetzt die Studierenden, indem sie sich die Zeit nehmen, innovative Veränderungen im Lehrbereich zu installieren. So fordern die Studierenden der Universität Regensburg in Ihrer Resolution vom 5. Dezember 1997 beispielweise:

„Angesichts einer sich ständig verändernden Berufswelt und sich ändernder Herausforderungen an unsere Gesellschaft muß das Studium interdisziplinär ausgerichtet sein, nicht nur Fakten- sondern vor allem Methodenwissen vermittel, zu selbständigem wissenschaftlichen Denken und Handeln befähigen, soziale und kommunikative Fähigkeiten trainieren. Dazu werden verstärkt neue Lehr- und Lernformen eingesetzt (Tutorien, Projektarbeiten, Seminare). Die Belegung fachfremder Veranstaltungen ist vorgesehen." Die politische Substanz der Studentenstreiks geht eben auf mehr als das bloß reibungslose Funktionieren des technischen Ablaufs an den Universitäten.

Macht Musik Schweigen

Interessanterweise spielen bei solchen Streikaktionen ganz bestimmte Fachgebiete eine nebensächliche Rolle. Neben den Juristen und Betriebs- wie Volkswirten gehören auch die Musikstudierenden dazu.

Musikhochschulen

Insbesondere an den Musikhochschulen interessieren sich nur wenige für eine Veränderung von Studienbedingungen. Während der letzten Wochen habe wir nur eine positive Reaktion erhalten, die von der traditionell stark engagierten Kölner Musikhochschule kam. Aus der Musikhochschule in Würzburg wurde uns berichtet, „daß von Streik keine Spur sei. Ganz im Gegensatz zur Uni.“ Die Reaktion in Trossingen fiel ähnlich aus. Ein Student schrieb: „Vor einigen Tagen kündigte der ASTA eine Demo in Freiburg an. Die Teilnehmerliste blieb auch nach zwei Tagen leer.“ Weiter heißt es: „Zudem sind viele Studierende durch die angespannte Stellensituation sehr übeorientiert, Zeit für Protest, oder gar das Bemerken dessen, gegen das protestiert werden könnte, bleibt nicht mehr.“ Und der Student fragt abschließend: „Macht uns die Musik, die wir studieren, Schweigen?“ In der Tat scheint die strukturelle Anlage des Musikhochschulstudiums mit ihrer Prüfungsbeladenheit und vorweggenommenen Ellenbogentrainigs eine ganz besondere Art des Individualisten und Egoisten auszubilden.

Gerade dieser Bereich der Hochschullandschaft, der eine wirkliche interne Neuerung nötig hätte, versagt sich diesem Prozeß am heftigsten. So verwundert es nicht, wenn die Solidarität zwischen den Lehrbeauftragen, die den überwiegenden Teil der Lehrenden bilden, und den Studenten sehr groß ist. Denn: Es geht ja gegen Unterrichtsausfall. Während auf einer Vollversammlung an der Kölner Musikhochschule eine eindeutige Mehrheit dafür votierte, sich mit den Lehrbeauftragten zu solidarisieren, deren versprochene Gehaltserhöhung ausblieb, war es in Sachen Novellierung des Hochschulrahmengesetzes nur eine einzige Stimme, die den Ausschlag für Streikmaßnahmen gab.

Musikwissenschaft

Was die Musikwissenschaft anbelangt, sieht es etwas besser aus. Allerdings ist es in der Chronik des Streikes von Stefan Girgsdies immerhin eine besondere Mitteilung wert, wenn Musikwissenschaftler streiken.

Die Musikwissenschaftler an den Universitäten, von denen wir Statements erhielten, haben einiges zu Wege gebracht. Beispielhaft sei die Humboldt-Universität in Berlin herausgegriffen: Hier machten die Musikwissenschaftler zum Beispiel auf sich aufmerksam durch gefälschte Programmhefte, die vor den drei großen Berliner Konzerthäusern verteilt wurden. Ihr Inhalt besteht aus leeren Seiten, frei nach dem Motto: „So könnte in Zukunft jedes Programmheft aussehen, wenn keine Musikwissenschaftler ausgebildet werden". Doch den Berliner Musikwissenschaftlern geht es nicht nur um mehr Geld für Bibliotheken, sondern sie schließen sich der Ablehnung von Studiengebühren und der Novellierung des Hochschulrahmengesetzes an. Es bestehe ein Grundkonsens gegen eine weitere Vermarktwirtschaftlichung der universitären Bildung, heißt es in einem Statement eines Studenten; und weiter: „Zur politischen Dimension musikwissenschaftlicher Aktionen gilt zu bedenken, welchen Stellenwert die Musikwissenschaft überhaupt noch in einer auf wirtschaftliche Schlüsselbereiche ausgerichteten Universitätslandschaft haben kann. Solche Diskussionen werden derzeit auch in der Musikwissenschaft geführt." Soweit der Student aus Berlin. Und weil man erkennt, daß es nicht weiter gehen kann wie bisher, ist dieser Streik zur Deckung des gesamtgesellschaftlichen Diskussionsbedarfs so nötig. Der Campus als Insel der glückseligen Elfenbeinschnitzer hat abgewirtschaftet. Die Umwertung des Campus zu einem Zulieferbetrieb für temporäre wirtschaftliche Engpässe gleicht einem Hausbau auf sandigem Boden. Was dazwischen möglich wäre, ist so unabsehbar wie die erfolgreiche Durchführung des Streikes.

Gesamtzahl der studentischen Beschäftigten an der TU und FU Berlin

Entwicklung der Anzahl von studentischen Beschäftigten an der Freien und technischen Universität Berlin. Für die Jahre 1993 bis 1995 liegen für die TU Berlin leider keine Zahlen vor.
Quelle: GEW Berlin

Martin Hufner / Olaf Roßbach