Gestern hatte Geburtstag neben Thorstein Veblen zum Beispiel der Komponist Detlef Müller-Siemens (Jg. 1957). Wurde einstmals unter dem Label „Neue Einfachheit“, „Neue Innerlichkeit“ und „Neue Subjektivität“ ins Feld gesetzt. Zusammen mit Fürst Trojahn, Graf Schweinitz, Baron von Dadelsen, König Rihm. Die ganze Sache hat sich aufgelöst in den Jahren. Und lebt doch weiter.
Ich habe das Etikett in den 80er Jahren nicht verstanden. So wenig wie ich Bitches Brew als „Rockjazz“ begreifen konnte. Aber das will nichts heißen. Die 80er machten ja alles irgendwie zu „Neo“. Das Ende der Musikgeschichte war erreicht und man wiederholte sie als Farce. Ach Quatsch! Geschwurbel. Man hat einfach nur eine neue Tür geöffnet, einen Vorhang zur Seite gezogen.
Welterschöpfungstag
Nicht der Tag, an dem die Welt erschaffen wurde, sondern der Tag, an dem sie sich auf Jahressicht hin erschöpft hat. Es ist der Tag an dem die menschliche Nachfrage nach nachwachsenden Rohstoffen das Angebot und die Kapazität der Erde zur Reproduktion dieser Ressourcen in diesem Jahr übersteigt.

Was könnte das mit unserem Kulturleben zu tun haben? Einiges. Der Philosoph Gernot Böhme zieht eine Linie von Marcuse zur aktuellen Situation, die er als ästhetischen Kapitalismus und ästhetische Ökonomie bezeichnet. „Der Kapitalismus qua ästhetische Ökonomie ist dafür verantwortlich, dass der Mensch auch im Überfluss nie zufrieden ist und sein gesamtes Dasein unter dem Gesichtspunkt von Leistung sieht“ (Gernot Böhme: Ästhetischer Kapitalismus, Frankfurt/M. 2016, S. 73). Dabei geht es aber nicht um eine Unzufriedenheit, die kreative Energien freisetzen könnte, sondern um das Gefühl, sich auch im Konsum als Wettbewerbsteilnehmer zu sehen. „Die ästhetische Ökonomie erzeugt also auf der Konsumseite eine Eskalation des Verbrauchs. Von daher werden die Menschen im Gefühl der Knappheit gehalten, obgleich sie im Überfluss leben“ (ebenda, S. 74 f.).
Das betrifft auch die Kultur selbst. So sei die „Unterhaltungsindustrie als Sektor der Konsumgüterindustrie ein Paradebeispiel dafür, wie das Leistungsprinzip immer wieder verstärkt wird: Sie erweitert nämlich die Konsummöglichkeiten der Verbraucher quasi ins Unendliche“ (ebenda, S. 72). Aber auch nur „quasi“. Der Welterschöpfungstag hat seine Parallelen durchaus auch im kulturellen Bereich. Etwas mutwillig könnte man das im Opernspielbetrieb sehen, wo zwar die Abwesenheit von Uraufführungen beklagt wird, diejenigen aber, die es in den Betrieb hineinschaffen, mit einer Verbrauchseigenschaft ausgestattet sind, einer Art künstlicher Obsoleszenz: Sie halten nicht besonders lange. Die ganze Neue-Musik-Szene ist davon befallen, die sich permanent erneuern will (und muss) und damit das Angebot großzügig erweitert und, zack, auch schon wieder verbraucht ist. Das Neue verbraucht sich in dem Moment, in dem es erscheint.
„Diese Gesellschaft ist insofern obszön, als sie einen erstickenden Überfluss an Waren produziert und schamlos zur Schau stellt, während sie draußen ihre Opfer der Lebenschancen beraubt; obszön, weil sie sich und ihre Mülleimer vollstopft, während sie die kärglichen Lebensmittel in den Gebieten ihrer Aggression vergiftet und niederbrennt; obszön in den Worten und dem Lächeln der Politiker und Unterhalter; in ihren Gebeten, ihrer Ignoranz und in der Weisheit ihrer gehüteten Intellektuellen.“
Herbert Marcuse
Ich kann es hier nur bei Andeutungen belassen. Natürlich betreffen die genannten Phänomene viele Bereiche des Lebens: Schule, Arbeitswelt, Freizeit, Bildung, Kunst, Wirtschaft. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Menschen ein Glück und eine Zukunft verheißen, die sie im Moment solcher Versprechen zugleich zerstören. Die Bedürfnisse werden nicht befriedigt, stattdessen werden Begehrnisse und Begierden erzeugt, wie Böhme weiter ausführt.
