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unveröffentlicht / Fragment

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Das Orchester, ein Auslaufmodell

© 1999 by Martin Hufner (EMail)

Das Orchester steht schon lange im Verdacht ein Auslaufmodell zu sein. Es wirkt wie ein Dinausaurier: groß und tot. Natürlich gibt es Orchester und natürlich machen sie Musik. Doch das soziale System des Orchesters hat den Funktionswandel der Öffentlichkeit während des dieses Jahrhunderts nicht mitgemacht. Der Konzertsal und damit das Orchester durfte man seit dem 18. Jahrhundert als das musikalische Symbol der bürgerlichen Öffentlichkeit ansehen. Es hat sich den eigenen Raum geschaffen, weil ein Publikum entstand, daß diese Institution mitbegründete. Man hatte ein gesellschaftliches System produziert, in dem Musiker, Komponisten und Publikum in einem konstruktiven und sich ergänzendem Zusammenhang standen. Das Orchester und das Konzerthaus sind Ausdruck eines sozialen Systems, das zum kulturellen Sprachrohr vieler Seiten gereichte. Die bürgerliche Öffentlichkeit dieser Art in zerfallen. Und mit ihr zerfallen die Strukturen ihrer Selbstdarstellung.

Aus dem Publikum wurde die Masse, aus dem Konzertsaal das Radio – später auch das Fernsehen. Damit begann die Spezialisierung und die Enträumlichung des obengenannten sozialen Zusammenhangs. Wer möchte noch die Musik des romantischen Erbes mit einem Stadtorchester hören, wenn er sie über den CD-Handel in meistens „höherer technischer" Perfektion von einem sogenannten Spitzenorchester bekommt. Dazu kommen die Spezialistenensembles, die an keinen Ort gebunden sind. Orchester mit Original-Instrumenten oder Orchester für Neue Musik zum Beispiel. Die durch Personen strukturierte Öffentlichkeit wird ersetzt durch einen anonymen Markt. Man wird zum Knecht des Marktes. War dieses Moment auch früher schon vorhanden, so war es doch durch konkrete Bestimmungen von Angebot und Nachfrage bestimmt, als direkter Austauschprozeß zwischen konkreten Repräsentanten. Heute sind dagegen Wirtschaftorganisationen und Prüfstellen zwischen diese Teilnehmer der Öffentlichkeit getreten. Sie heißen Kulturdezernenten, Kulturorganisationen und Plattenfirmen. Dies alles hat natürlich zu einer Verschärfung des Wettbewerbs unter den Orchestern und ihren Dirigenten geführt – mit zum Teil widerlichen Ergebnissen: Wenn ein Orchester einen Dirigenten nur nach dessen Popularität und seiner charismatischen Selbstdarstellung erhält. Aber es hat zu musikalischen Spitzenleistungen geführt, die man so nur für die Gegenwart attestieren kann.

Doch stellt sich die Frage, ob man auf diese „Spitzenleistungen" tatsächlich angewiesen ist, ob man Musik wirklich nur nach diesem Maßstab zu beurteilen hat. Ich denke: nein. Musik wird auf diese Weise zu einer fungiblen, losgelösten Angelegenheit für ein Elitenpublikum, welches entweder sich durch hohen Spezialistenverstand gegenüber der Musik oder durch entsprechende finanzielle Leistungen auszeichnet. Doch wie man den Gedanken auch dreht, es handelt sich dabei nicht mehr um einen Austausch zwischen Individuen sondern um eine kalkulierte „Kotzen-Nutzen-Rechnung" (Thomas Kapielski) von Agenten ihrer selbst – Adam Smith’sche Menschen, die alle auf ihren privaten Vorteil aussind, weil sie daran glauben, daß sich so der Wohlstand der Nationen von selbst ergibt.

Doch die Medialisierung der Wirklichkeit führt zu weiteren Verzerrungen. Statt der regionalen Bindungen eines Orchester in einen bestimmten Teil der Welt, gründet man Weltorchester wie die Philharmonie der der Nationen, dabi die alte bürgerliche Vorstellung des „Alle Menschen werden Brüder" zitierend. Die auf diese Weise zu Universalität auftrumpfende Naivität entbehrt jeglicher politischen Realität. Sie ist eine blinde Sozialutopie und Gesellschaftskosmetik. Ganz im Gegensatz zu einer anderen Organisation, die im ersten Moment ganz ähnlich aussieht wie das „Weltorchester der Jeunesses Musicales". Denn hier steht das Bilden der eigenen musikalischen und seelischen Persönlichkeit im Vordergrund. Das äußert sich im Einräumen gegenseitigen Respekts und in der Orchesterarbeit als solcher, die selbst als Bildungsprojekt aufgefaßt werden muß.

So komisch es klingt: Obwohl die Globalisierung der Öffentlichkeit nicht aufzuhalten ist, so muß man doch erkennen, daß mit der Globalisierung zugleich die eigentlichen Eigenschaften der Öffentlichkeit abstrakt werden. Daher hieße es, sich einen Bärendienst zu erweisen, wenn man die regiognalen Eigentümlichkeiten wegbügelt: als veraltet und konsensunfähig. Im Gegenteil, nur wenn überhaupt im Sozialsystem ausgeprägte Individuen sich ausbilden, werden sie die Kraft der Anerkennung anderer entwickeln können. Das Orchester als eigenständiger Organismus wäre prädisponiert dafür eine Spielwiese darzustellen – und zum Beispiel das „Bundesjugendorchester" und die „Junge Deutsche Philharmonie" könnten solche Instrumente sein. Aber es könnten auch die vielen kleineren Stadtorchester sein, die mithelfen, in einer Region eine kulturelle Identität zu entwickeln. Das geschieht überall dort, wo das Orchester den Graben und den Konzertsaal verläßt. Nicht zuletzt deshalb ist die Streichung der Potsdamer Philharmoniker so traurig – übrigens ja mit dem Verweis, daß die Nachbarstadt einige „Spitzenorchester" besitze. Man anerkennt einfach nicht, daß Musik (und ihre Darstellung) nicht als Leistungsbarometer dienen sollte, sondern ein sehr fein zu justierendes Instrument des Widerstands innerhalb der rotierenden Wirtschaftsmesser des modernen Kapitalismus.

Martin Hufner