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Quelle:
neue musikzeitung

Dossier

Jahr 2000
Ausgabe 7/8
Seite 45-46
nmz-online

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Einsame Masse und flexible Menschen

© 2000 by Martin Hufner (EMail)

Die neue Steinzeit der öffentlichen Kommunikation · Von Martin Hufner

Im Medium des Internets scheint sich der traditionelle Subjekt-Begriff langsam aber stetig aufzulösen. Damit wird eine Entwicklung vollzogen, die sich seit dem Aufklärungsprozess der abendländischen Kultur seit dem 18. Jahrhundert zweischneidig abzeichnete: In dem Moment, da sich Menschen als Subjekte sozialen Handelns verstanden, lösten sie die traditionalen und kultischen Elemente ihrer Handlungsweisungen auf. Individuelle Lebenspraxen treten damit aber immer stärker an die Stelle gemeinschaftlichen Handelns. Der Soziologe David Riesman fand dafür das Wort der „Lonely Crowd“, der „einsamen Masse“. Richard Sennett nennt es den „flexiblen Menschen“, der haltlos durch die Gesellschaft driftet.

Im Internet gibt es nun sehr viele individuelle und unzusammenhängende Lebensentwürfe. In diesem Ausmaß neu ist dabei die Möglichkeit, Identitäten zu verschleiern und zu verändern. Man kann x-beliebige Identitäten annehmen und tritt dabei jedoch subjektiv stark auf. Immer wieder muss man sich die Frage stellen, wer ist es, mit dem ich da kommuniziere? Den handelnden Subjekten ist es möglich, anonym zu bleiben oder sich zu anonymisieren. Alles wird zu einem Spiel, dessen Ernsthaftigkeit immerzu infrage steht. Sicherlich steht hinter den Maskierungsvorhängen häufig ein spielerisches Moment. Das ist aber nur die eine Seite. Die andere ist überwachungstechnischer Natur. Es ist theoretisch ein Leichtes, diese Identitäten im Internet zu überwachen. Die digitalisierten Subjekte generieren Informationsströme, die an allen möglichen Stellen abgefangen werden können. Dass dergleichen passiert, bestreitet niemand.

Modern Times 1

Was konkret durchsiebt wird vom amerikanischen Geheimbund names NSA („National Security Agency“), darüber kann und will allerdings niemand Auskunft geben, nicht einmal die beauftragenden Regierungen. Nur Schritt um Schritt kommen die Fakten ans Tageslicht: Es war schon lange bekannt, dass die Satellitenanlagen auf der Nordinsel Neuseelands auch zur Spionage eingesetzt werden. Doch auf Anfragen der Grünen Partei bestätigte der neuseeländische Geheimdienst jetzt auch offiziell, was die amerikanische NSA bis heute standhaft leugnet: Die Satelliten sind Teil einer weltweiten Überwachungsanlage namens Echelon, mit der unter anderem die Geheimdienste der USA, England und Australien – nach Belieben und außerhalb der parlamentarischen Kontrolle – die militärische, geschäftliche und nicht zuletzt private Kommunikation weltweit bespitzeln. Auch die australische Regierung hat mittlerweile die Existenz von Echelon eingeräumt. In den USA steht eine Anhörung des U.S. House Government Reform and Oversight Committee zum Thema bevor. Wundert es einen da noch, dass man sich dann möglichst zu tarnen sucht?

Wie sehr zerklüftet die momentane Situation ist, macht auch der Andrang zur Teilnahme an „Big Brother“ oder an den täglichen Talkshows deutlich. Dass Menschen ihre Privatsphäre „freiwillig“ aufgeben und dies auch noch gesellschaftlich honoriert wird, sollte man als ernsthaftes Zeichen der Bedrohung ansehen, ebenso den leichten Erfolg, den der Love-Letter-Virus auszulösen imstande war. Es sind die gleichen Leute, die sich darüber auf politisch-moralischer Ebene empören und zugleich eine gesicherte und verschlüsselte Kommunikation unter Privatmenschen verhindern wollen. Das wirkt wenig glaubhaft. Mit Verweis darauf, dass diese Verschlüsselung auch zur Kommunikation der „Organisierten Kriminalität“ dient, werden Grundrechte auf freie Kommunikation unter unbescholtenen Bürgern beschnitten. Organisierte Kriminalität mag in Deutschland die Rauschgiftmafia sein, in China oder Jugoslawien dürften Bürgerrechtsbewegungen als staatszerstörende kriminelle Organisationen erscheinen.

Doppelmoral

Wenn eine Gesellschaft dahin gelangt ist, sich nicht mehr in der öffentlichen Auseinandersetzung miteinander zu verständigen, sondern sich fortwährend zu tarnen und zu isolieren sucht und dies als genuine „neue Freiheit der Individuen“ erklärt, dann ist etwas grundlegend falsch gelaufen und faul. Die Nutznießer sind laut neokapitalistischer Logik die Unternehmen, im kulturellen Bereich genauer die Medienunternehmen. In diesem Zusammenhang wirken die Verwertungsgesellschaften wie die GEMA allenfalls als Obdachlosenasyl für Urheber, nicht aber als deren gesamtgesellschaftliche Vertretung, die vor allem gegenüber der wuchernden Medienindustrie die Belange der Urheber vertritt.

Wo der Hase lang läuft, erklärte Erich Möchel von der ORF Futurezone auf dem zweiten Symposium des Music Information Centers Austria (MICA):

„Die IFPI in Deutschland (...) war sich nicht zu gut, einen Zwangsfilter für ganz Deutschland zu fordern, das heißt ein flächendeckendes Zensursystem (‚Rights Protection System‘, RPS), um ihre eigenen Rechte zu wahren. Dasselbe lächerliche Vorgehen mit diesen Zwangsabgaben auf Flashcards (Speicherchips für Musik, Bild und andere Daten) bei Nacht und Nebel. Die Hersteller waren alle völlig überrascht, danach hat es hochrangige Interventionen aus der deutschen Industrie gegeben, da ist nämlich eine Siemens-Tochter namens Infineon dabei Marktführer, und plötzlich wird wieder verhandelt.“

Das Beispiel mag verdeutlichen, dass bei der Durchsetzung der Urheberrechte nicht die Urheber in besonderer Weise vertreten werden, sondern wirtschaftliche Interessen der Großindustrie. Diese gilt immer noch als einzige Finanzschraube des Fortschritts. Sauber: Da gibt es große Fabrikhallen, in denen Raubkopien hergestellt werden mit Wirtschaftsgütern aus den Industrien, die gegen Raubkopien vorgehen. Aber anscheinend ist der Verkauf der DVD-Technologien gewinnträchtig genug. Dazu nochmals Erich Möchel:

„Die wirklichen Piraten arbeiten nämlich ganz anders: Das sind Firmen, die ordentlich im DVD-Konsortium lizenziert sind, in Hongkong oder noch weiter östlich sitzen, professionelles Equipment haben, wie man es braucht, um DVDs industriemäßig herzustellen in großen Mengen – das sind Firmen, die Filme auf den Markt bringen, die nicht lizensiert sind. Das ist eine professionelle Industrie, genauso wie früher CDs gefälscht worden sind, dazu gehört sehr viel Geld, das machen nicht irgendwelche Leute, die irgendeine File ins Netz stellen, die ihnen nicht gehört, sondern das ist organisierte Kriminalität, die innerhalb der Industrie selbst sitzt. Und die Industrie selbst hat ein Interesse daran, dass das funktioniert, denn sie würde sonst auf dem Markt zu normalen Marktpreisen ohnehin nicht verkaufen können, und so verkaufen sie wenigstens das sündteure Produktionsequipment an verschiedene Firmen. So ist das nicht, dass hier die brave Urheberrechtsindustrie sitzt von Film bis Musik, und dort ist das böse Internet, wo alles herumfliegt. [...] Leute, die [...] Plattenkonzerne besitzen beziehungsweise Firmen, die die Hardware herstellen zur Platten- und CD-Pressung, haben mit Piraten weit mehr zu tun als MP3.com.“ (Quelle: http://www.mica.at/ )

Natürlich ist der kleine Raubkopierer ein Rechtsverletzer, das kann niemand ernsthaft bestreiten. Dass dies teilweise auch mit klein-krimineller Energie geschieht, steht auch außer Frage und nur ein Zyniker könnte für diese sogenannten Schulhofpiraten geltend machen, dass sie sich eben schon früh in das zukünftige Wirtschaftsleben einfühlen. Dass die Durchsetzung des Urheberrechts in den Köpfen der Menschen so schwierig ist, dafür könnte ein Grund darin liegen, dass urheberrechtlich geschützte musikalische Werke permanent um uns herum sind, ohne dass diese Musik (respektive deren Urheber) als schützenswert wahrgenommen wird. Radio, Fernsehen und CD-Player in Kneipen liefern uns diese Musik im Prinzip frei Haus. Musik mag auf diese Weise als ein öffentliches Gut erscheinen, so wie es zum Beispiel auch Straßenschilder sind. So etwas muss sich zwangsläufig im Bewusstsein festsetzen. Die Wertschöpfungskette macht vor dem Konsumenten von Musik halt, zumal das Urheberrecht keine so weitreichende Rechtstradition hat wie meinetwegen der allgemeine Eigentumsbegriff und außerdem noch von Land zu Land verschieden gehandhabt wird.

Modern Times 2

Wieviel Urheberrechte wert sind, erkennt man an einem Ort, an dem man es eigentlich nicht erwarten dürfte: der universitären Forschung und dem Patentrecht. Urheberrechte auf wissenschaftlichem Terrain sind längst nicht mehr Grundsubstanz einer Forschungsgemeinschaft, sondern Gegenstand privatwirtschaftlicher Unternehmungen.

Die „eigentlichen Nutznießer akademischer technologischer Erfindungen sind nicht die Konsumenten und Steuerzahler, sondern Firmen und Unternehmer, die häufig enorme Profite durch alles andere als faire Preise erzielen. ... Unternehmen sparen gewaltige Summen, indem sie Forschung von Universitäten durchführen lassen und die Gewinne einstreichen, indem sie einen vergleichsweise geringen Beitrag an Gebühren und Tantiemen investieren,“ schreibt Masao Miyoshi in „Lettre International“ (Heft 48, 1. Vierteljahr 2000).

Ende des Individuums

Der Einzelne – ob Konsument, Urheber oder beides – ist gegenwärtig mehr denn je zum Spielball staatlicher wie industrieller Reglementierung geworden. Er steht andauernd unter Verdacht, nicht marktgemäß zu funktionieren. Aber er funktioniert besser, je mehr er isoliert wird. Die Hoffnungen auf eine gemeinschaftliche Organisation werden umso stärker abgeblockt, je deutlicher sich die traditionellen Vertretungsgemeinschaften wie Gewerkschaften oder eben Verwertungsgesellschaften als Büttel eines katastrophisch kurzfristig operierenden Kapitalismus verstehen, der nach dem Modell des neuen Aktienmarktes operiert. Dass es auch anders geht zeigen die Veranstaltungen des Music Information Centers Austria (http://www.mica.at/; siehe dazu auch den Artikel von Richard Pettauer auf dieser Seite), die eine Öffentlichkeit herstellen und die Agenten dieser Prozesse ins Gespräch bringen. So wird mehr dazu beigetragen, dass das Urheberrecht nicht vom Kultur- zum Industrierecht (Thomas Hoeren) herabsinkt, als durch Presseverlautbarungen aus den Vorzimmern der Ministerien der Neuen Ökonomie.

Martin Hufner