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Quelle:
Taktlos No. 33 (September)

Sendetermin: 1.9.2000 / 20:05 Bayern2Radio
Website taktlos
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Kommunikationsfalle

Vom schwierigen Umgang zwischen Menschen unterschiedlicher Fähigkeiten

© 2000 by Martin Hufner (EMail)


Taktlos 33 / Musik von Behinderten, Musik für Behinderte Martin Hufner

Musik: Heinz Holliger, Scardanelli-Zyklus (Winter III, es soll komplett unter dem Beitrag liegen – mit Aufblendungen – bitte im BR besorgen, habe ich nur auf Kassette)

Es ist nicht lange her, da klagten deutsche Touristen vor Gericht auf Reisekostenerstattung. Grund: Sie fühlten sich um ihren Urlaubsgenuss betrogen. Gut, wird man denken, eine Baustelle im Haus, verstopfte Toiletten oder etwas Ähnliches. Aber nein, sie fühlten sich im Urlaubsgenuss gestört, weil in der gleichen Hotelanlage auch eine Gruppe körperlich oder psychisch behinderter Menschen einquartiert war. Die Klage musste natürlich ins Leere laufen. Aber sie ist bezeichnend für den Umgang von Menschen mit Menschen in der gegenwärtigen Kultur.

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Das hier etwas falsch läuft, liegt auf der Hand. „Behinderung" ist ein Tabu-Begriff. Man verhält sich gegenüber sogenannten Behinderten immer falsch, sofern man sie über die Eigenschaft „Behinderung" definiert. Man ist dann gefangen in einer Kommunikationsfalle. Gegenüber sogenannten Behinderten gibt es danach von Seiten der Nichtbehinderten kein richtiges Verhalten: Man steht immer im Verdacht, entweder die Mitleidsschiene zu befahren oder das Gefühl menschlicher Kälte auszustrahlen. Daran ändert auch der Versuch einer Definition von „Behinderung" nichts. So beschreibt das Begriffsfeld „Behinderung" ein Menschenbild, welches den Menschen grundsätzlich als Mängelwesen charakterisiert. Was heißt das? Nach dieser Vorstellung geht man von einer idealen Konstruktion eines Menschen aus, der schön, schlau, jung und körperlich fit ist. Nur wer diese Eigenschaften auf sich vereinigen kann, der hat auch die sekundär entscheidenden Eigenschaften: Geld und Erfolg. Das ist die Kultur des gegenwärtigen „Fit-for-Fun-Narzismus." Jede Abweichung davon gilt als Mangel – oder eben als Behinderung. Dass dieses Menschenbild nicht vom Menschen her entworfen ist, sondern aus der Ökonomie stammt, darf man als gesellschaftliche Katastrophe bezeichnen. Dem gegenüber geht zum Beispiel die Musik- und Theatergruppe „Die Regierung" ausgesprochen klar mit dem Begriff der Behinderung um und entschärft ihn zugleich. Für sie sind die sogenannten Nicht-Behinderten eben einfach „Normalbehinderte".

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Aber was hat das alles mit Musik zu tun? Es hat so gut wie nichts damit zu tun. Denn für das Musikmachen oder Musikhören ist eine sogenannte Behinderung keine wirkliche Behinderung. Musik drängt sich als kommunikatives und ästhetisches Medium geradezu auf, um miteinander ohne Verkrampfung und Angst zu agieren. Denn Unterschiede bei körperlichen oder geistigen Fähigkeiten können Musikempfinden und Musikproduktion nicht wirklich beeinträchtigen. Musik wird in diesem Zusammenhang nicht zwangsläufig als „bloß" pädagogische oder therapeutische Maßnahme qualifiziert sondern ist als eigenständige Handlung anzusehen. Darum auch eignet sich Musik, aber im Prinzip jede künstlerische Tätigkeit so ausgezeichnet zur Aushebelung der gesellschaftlich produzierten Kommunikationsfalle, die die Freiheit unserer Gefühle und unseres Handelns so oft beschneidet.

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