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Quelle:
Taktlos No. 36 (Dezember)
Sendetermin: 1.12.2000 / 20:05 Bayern2Radio
Website taktlos
RealAudio
Was ist gute Musik?
Donaueschingen-MTV – Freunde guter Musik e.V. – mittelmäßige Musik – Lemminge – gesellschaftliches Ozonloch
© 2000 by Martin Hufner (EMail)
Anfangsmusik: Clara Rockmore, CD1 OHM Track 1 Unter den Text blenden
„Gute Musik für Kinder" nennt sich eine Initiative des Verbandes deutscher Musikschulen. Das klingt nett. Aber während man durchaus weiß, was ein Kind sein könnte, so bereitet einem die Frage „Was gute Musik" wäre, einigermaßen Kopfzerbrechen. Über die Entwicklung objektiver Kriterien guter Musik haben sich Musiker, Komponisten, Musikwissenschaftler und Philosophen zwar gelegentlich Gedanken gemacht, aber zu einem objektiven Kriterienkatalog wie ihn beispielweise die Stiftung Warentest für Waschmaschinen hat, ist es bislang nicht gekommen. Es gibt zwar ähnliche Verfahren zur Bestimmung des Guten, zum Beispiel bei den Kompositionswettbewerben neuer Musik oder bei den allseits beliebten Pop-Contests von MTV und Viva. Doch „gut" heißt hier normalerweise nur „gut gemacht". In beiden Fällen steht die Beurteilung des handwerklichen Geschicks im Vordergrund. Etwas fehlt, aber was?
Musikbreak Meat Mouth (B-Side Anfang) 15 Sekunden (bis Gesangeinsatz) [hart]
In Berlin gibt es eine Initiative mit dem Namen „Freunde Guter Musik e.V." die zwischen 1983 und 1993 zirca 150 Projekte im Grenzland zwischen Musik, Bildender und Darstellender Kunst, Composer-Performances, Improvisationen, Klangskulpturen und Aufführungen der Jazz- und Rockavantgarde entwickelte. Da haben die Berliner Freunde den Nagel auf den Kopf getroffen. Gute Musik zeichnet sich eben nicht durchs Genre sondern durch über- und außermusikalische Aktivitätsschübe aus. Das meint: Gute Musik ist immer mehr als nur Musik.
Musikbreak Sciarrino vierte Klaviersonate (Anfang CD Track 4)
Salvatore Sciarrinos vierte Klaviersonate ist nicht nur extrem laut sondern auch extrem theatralisch. Wenn man sieht, wie der Pianist derwischgleich die Arme auseinander und wieder zusammenschleudert, dann erregt solche Musik mehr als das Ohr und setzt Fantasie frei, die sich frei entwickeln könnte. Das gilt für mittelmäßige Musik nicht. Mittelmäßige Musik vermittelt allenfalls stereotype Erfahrungen und blutet dadurch den Menschen eher aus. Solche Musik gibt es in allen Bereichen, von der Neuen Musik bis zur Volksmusik. Und etwas weiteres macht das Musik-Beispiel deutlich: Musik aus der Konserve bietet nur eine amputierte Musikerfahrung. Leider ist diese Erfahrung in den technisch hochentwickelten Kulturen zur Normalität und zum Fetisch geworden. Der wertfreie Lemmingsprung nach Handys und computerisierten Schulzimmern trägt ebenso zum Zerfall der Erfahrungstätigkeit bei wie der fortlaufende Auflösungsprozess der Familien. Ob sich diese Entwicklungen beherrschen lassen oder lebendige Erfahrungen nur noch den neuen kapitalkräftigen Eliten oder traditionellen Kulturen vorbehalten bleiben, ist eine offene Frage. Mag aber sein, dass die Antworten schon zu spät kommen. Eine Initiative „Gute Musik auch für Kinder" bliebe daher hilflos, wenn sie sich nur um Musik und Kinder kümmert wie um Treibhauspflanzen. Das Ozon-Loch unserer Gesellschaft weitet sich stetig aus.
Schlussmusik: La Monte Young, Excerpt from Drift Study CD2 OHM Track 13