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Quelle:
Taktlos No. 29 (Mai)
Musicals

Sendetermin: 5.5.2000 / 20:05 Bayern2Radio
Website taktlos

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Das Musical. Ein Kraftwerk der Geschwüre

© 2000 by Martin Hufner (EMail)

Sprecher:
Alexander Kluge nannte die Oper einmal „ein Kraftwerk der Gefühle". Das Musical dagegen muß einem ästhetisch, kulturpolitisch und institutionell als ein „Kraftwerk der Geschwüre" vorkommen.

Musik:
B.A. Zimmermann, Pour le souper de Roi Ubu, Enthirnungsmarsch

Ästhetisch: Das Musical ist schlechthin die musikalische Gattung, deren ästhetische Bestimmtheit im Lapidaren kulminiert, die das ausdrückliche des Ausdrucks durch technisches Gefunkel ersetzt, die den vielstimmigen Gesang der Bedeutungen auf mundgerechte Trivialität zusammenschrumpfen läßt. Hier lebt das Leben eine Eindeutigkeit, die es nirgends hat. Die Charaktere erscheinen nur als Totenmasken.

Musik:
B.A. Zimmermann, Pour le souper de Roi Ubu, Enthirnungsmarsch

Kulturpolitisch: Der Zerfall der Differenziertheit in dummdrollige Parolenparodien hat zwar nicht allein das Musical befallen (auch in der neuen Oper findet man nicht selten schlampige Dürftigkeit), aber das Musicalwesen zeichnet sich durch eine aggressive kulturpolitische Verdrängungsmechanik aus. In Berlin haben 1995 zwei Theater zugemacht und an deren Stellen traten sich diese Pauschalreisemusicals den Weg frei. Statt „Hamlet" gab es Shakespeare auf Rollerblades. Mit der Berufung auf das Gesetz: Recht hat, wer Kohle macht, schreitet die medienwirksame Broadwayisierung über die Kulturzombies der etablierten und subventionierten Kulturbürokratie hinweg.

Musik:
B.A. Zimmermann, Pour le souper de Roi Ubu, Enthirnungsmarsch

Institutionell: Wo sich in der Arbeitswelt längst neue Organisationformen entwickelt haben, wirkt die Organisation der Musicalwelt wie aus dem vorletzten Jahrhundert. Mittlerweile ausgestattet mit den Weihen kunsthochschulischer Akzeptanz kann man diesen verspäteten Hang zur Tradition der Entfremdung niemandem verwehren. War das Studium vielleicht noch ein Vergnügen, so ist der tausendfache Tod als Fließband-Superstar allerdings ein problematischer Rückfall in die Selbstenthirnung.

Musik:
B.A. Zimmermann, Pour le souper de Roi Ubu, Enthirnungsmarsch

Bei alledem: Das Publikum ist ja nicht blöde. Es weiß, dass es hier viel zu süße und zu teure Zuckwatte vorgesetzt bekommt, aber es nimmt dies hin mit einer Seelenruhe und dem Spaß am Betrachten der Geschwüre – und wer würde nicht das Kraftwerk der Geschwüre dem der Atome vorziehen.

Martin Hufner