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Quelle:
Taktlos No. 6 (Juni)
Musiktherapie

Sendetermin: 4.6.1999 / 20:05 Bayern2Radio
Website taktlos

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Musiktherapie, verdächtig

© 1999 by Martin Hufner (EMail)

Musik/Geräusch:
Vielleicht grummelde Menschen wie in einer Cafeteria einer Universität. Möglichst kein Kling/Klang, das mit mit Musiktherapie assoziieren kann! Unter dem Text lassen bis Ende des ersten Absatzes

Sprecher 1
Musiktherapie, das war zu meiner Studienzeit ein Zauberwort. Viele Erstsemester-Studenten der Musikwissenschaft gaben zu, daß Sie Musikwissenschaft nur als Parkstudium ansähen. In Wirklichkeit wollten sie Musiktherapie erlernen. Bei den wenigen Einrichtungen dieser Art in Deutschland, die ein Studium anboten war es aber gar nicht einfach, einen entsprechenden Studienplatz zu ergattern. Damit sorgte diese Studienplatzknappheit für eine gewisse Exklusivität des Faches. Ein weiterer Faktor war sicherlich auch der allgemeine „Psychoboom" der 70er und 80er Jahre. Seit dieser Zeit ranken sich Gerüchte um die therapeutischen Erfolge dieser Disziplin.

Daß man mit Musik auf Geist und Seele der Menschen einwirken kann, wird von niemandem bestritten. Über das Ohr gelangt man, wie man so sagt, auf direktem Weg zu Seele des Menschen. Beispiele für diese Vorstellung gibt es zu Hauf. Und auch die moderne Konsumindustrie arbeitet mit dieser Vorstellung. Da gibt es Musik zum Relaxen, Musik zum Kuscheln, Musik für diess, Musik für das. In Kaufhäusern wird Musiktherapie direkt angewandt, denn von der Berieselung mit seichtem Klingklang erhofft man sich, die Käuferschaft zu entspannen und zu entkrampfen. Man möchte, daß die Kaufhausbesucher sich wohlfühlen. In etwa auf diesem Niveau arbeitet auch die Musiktherapie – wenngleich etwas differenzierter, vielleicht aber auch verlogener. Denn sie geht ja in ihrer Absicht weiter, sie will „heilen". Der Hannoveraner Musikpsychologe und Musikwissenschaftler Klaus-Ernst Behne beobachtet das Treiben der Musiktherapeuten mit einiger Distanz. Er wirft den Musiktherapeuten vor, mit falscher Münze zu arbeiten.

Sprecher 2:
„Was die Häufigkeit erfolgreicher musiktherapeutischer Heilungsprozesse angeht, so ist eine zurückhaltende Einschätzung angebracht. Heilerfolge der Musiktherapie sind im allgemeinen schlecht dokumentiert, verbleiben oft im Anekdotischen oder kommen über die Anhäufung von Fallbeispielen nicht hinaus. Da die Fallbeispiele im allgemeinen von den Therapeuten selbst verfaßt werden, ist es naheliegend, daß sie die Erfolge ihrer eigenen therapeutischen Tätigkeit nicht immer objektiv darstellen. Die weitgehende Rückführung musiktherapeutischer Heilerfolge auf Placebo-Effekte ist aus heutiger Sicht die naheliegendste Erklärung."

Sprecher 1:
Fehlende wissenschaftliche Untermauerung ihrer Arbeit, Ausnutzung gewisser gruppendynamischer Prozesse zwischen Therapeut und Patient und vor allem auch die Propagierung ihrer Tätigkeit mit pseudowissenschaftlichen Argumenten, dies alles führt Behne gegen ein seliges Vertrauen auf diese „Wissenschaft" an.
In einem viel tiefer gehenden Sinn „heilende" Wirkungen von Musik findet man allerdings im medizinischen Bereich und bei Beobachtungen von neurologischen Störungen. Der bekannte Neurologe Oliver Sacks berichtete aus seiner praktischen Tätigkeit folgendes:

Sprecher 2
„Die Macht der Musik, Erzählungen und Schauspielen ist von größter theoretischer und praktischer Bedeutung. Dies läßt sich selbst bei geistig Schwerbehinderten mit einem IQ von unter zwanzig beobachten, die motorisch extrem beeinträchtigt und verwirrt sind. Mit Musik oder Tanz verschwinden ihre ungeschlachten Bewegungen von einem Augenblick auf den anderen – plötzlich wissen sie, wie man sich bewegt. Man kann sehen, wie Retardierte, die nicht in der Lage sind, recht einfache Arbeiten auszuführen, sobald diese vier, fünf Bewegungen oder Abläufe erfordern, mit Musik ohne Schwierigkeiten arbeiten können ... Dies ist zweifellos der Grund, oder einer der Gründe, für Arbeitslieder."

Musik:
Captain Jack mit Captain Jack schon drunter aufblenden und wieder unter den Text ziehen

Sprecher 1
Man sollte diese Beobachtungen wörtlich nehmen. Musik in ihren vielen Erscheinungsformen kann eine sozialpolitische Krücke sein. Das heißt sie läßt unser Leben besser funktionieren. Insofern befinden wir uns hier in einer großen gesellschaftlichen Musiktherapie. Ob man sich in Kaufhäusern befindet, ob man Radio hört, ob man Fernsehen sieht oder ins Kino geht, die Disfunktionalität der sozialen Struktur unserer Gesellschaft wird permanent kompensiert durch musikalische Veranstaltungen: Die „Back Street Boys" helfen zum Beispiel bei der Identitätsbildung unserer pubertierenden Jugendlichen – fragt sich nur, mit welchem Ergebnis.
Aus dem Gesagten dürfte deutlich geworden sein, daß man besser in Versuche einer Anti-Musiktherapie investieren sollte. Diese Anti-Therapie hätte zuallerst der Frage nachzugehen, wie man sich gegen die schleichende Beeinflussung von Musik schützt. Der Anti-Therapeut wäre ferner ein Erzieher in Sachen ästhetischer Rationalität, der bewußt zu machen hätte, welche ästhetische Bedeutung der Musik zukommt. Musik wäre dann endlich wieder befreit für das, was sie sein könnte: Ein kreativer Prozeß, der die Sinnlichkeit der Menschen herausfordert. Musik mißbrauchte man dann nicht für die Therapie, sie wäre selbst Therapie.

Musik:
Morton Feldman, Christian Wolff in Cambrigde (Chormusik vierstimmig) schon ab „Der Anti-Therapeut wäre ferner ein Erzieher", Mitte vorhergehender Absatz

Martin Hufner