19. Mai 2024 Die Masse lebt

Sabotage der Kultur

Es ist sicher nicht ganz falsch, wenn man sich ab und zu einem älteren Buch zuwendet. Mittelmaß und Wahn von Hans Magnus Enzensberger ist so ein altes Buch, das einem da in die Hände fallen kann. Gleich im ersten Essay über Ignoranz gibt es bemerkenswerte Beobachtungen der Zeit (vor dem Internet).

Erstaunlich ist es auch deshalb, weil damals die Diagnose auf die Unbeherrschbarbeit der Vielfalt von Wissen eingegangen worden ist. Jedes Wissen wird potentiell, aber wahrscheinlich auch prinzipiell, innerhalb von wenigen Tagen umgeworfen. Was haben wir denn heute erst recht. Das Fernsehen ist geradezu ein Seismograph dafür. Aus drei Kanälen wurden 5, später 9, später Dutzende. Durch das Netz sind es mittlerweile Millionen.

Enzensberger lebte noch zu Zeiten, als man Epochen andeuten konnte, Post-Strukturalismus, Post-Moderne oder ander Post- und Neo-Epochen. Eine Diskussion darüber hatte noch Ränder über die man nicht hinaus musste, aber gehen konnte – musste und wollte. Kulturell, versteht sich.

Das ist so grundsätzlich anders geworden, könnte man meinen. Vielleicht aber ist es doch anders. Es ist die Kultur nur wesentlich weiter zerpflückt. Als Wegmarkierungen dienen immer mehr Jahrestage. So als ob sie wie Anker in die Geschichte aufgestellt wären. So als ob sie den Fluss stauten. (Klar sind die großen Daten immer schon präsent gewesen: Goethe-Jahr, Beethoven-Jahr, Mozart-Jahr, Bach-Jahr, Luther-Jahr …).  An diesen Erinnerungen verfängt dann für Momente ein Gedanke. Oder ein anderer. Vor allem welche, die es selbst nicht schaffen und der Beleuchtung durch die Jubilläumssituation bedürfen.

Der Rest geht im allgemeinen Gemurmel unter. Im Gemurmel, über das man informiert sein muss – aber nicht, weil man es wollte.

Man redet überall mit, hat zu allem eine Meinung (zu haben). Die Öffnung der Öffentlichkeit scheint total. Aber die Öffentlichkeit geht darüber als Instanz des gesellschaftlichen Streits verloren. Sie ist weniger Markt als mehr und mehr Flohmarkt – eBay der Gedanken – Wolke.

Was hier mit der Zeit, notwendigerweise, als Bildungskanon verloren geht, entsteht zugleich im Kodex des Verhaltens neu. Maßregelvollzug durch Gesundheitsrichtlinien, durch richtiges physisches Benehmen, durch neue Rituale der Künstlichkeit. Die Individualisierung des Nichtwissens wird kompensiert durch die Normierung der Körper (Kieferorthopädie, Deutschland sucht das nexte Popmodell, …), Normierung des Spaßes (Blauer Bock, die sieben „Comedians“ von Deutschland).

Selbst der Aufstand der Massen wird immer mehr zu einer reiner Mode, in die man sich flüchten kann. Und kanonisches Verhalten ist die Folge. Man lässt ja weiterhin für sich denken, denkt aber, es wäre das Selbst, das so denkt. (Vielleicht war das früher auch schon so, nur man konnte es auf drei Kanälen weniger bemerken als in den Millionen. Es geht auch nicht um eine Gegenüberstellung von früher und heute, jedes heute ist immer schlechter als das früher, es ist immer eine Abspeckung der Differenz zu einer Norm, aber zu einer Norm, die sich vervielfacht. Heute hat man mehr Werkzeuge in den Händen, aber die Hände werden immer kleiner. Darüber tröstet allein die Friedenszeit hinweg, deren manche teilhaftig werden können. Die aktuellen Bürgerkriege der „friedlichen“ Welt toben auf den Schlachtfeldern der Rhetorik und der Geschwätzigkeit.)

 

kritische masse newsletter

Wir senden keinen Spam! Erfahre mehr in unserer Datenschutzerklärung.