9. Mai 2024 Die Masse lebt

Der Mann im Bus – Odo Marquard

Als ich in Gießen zu studieren anfing, war mir sein Name kein Begriff, dabei hatte mein Vater schon die Reclamheftchen gelesen, die er finden konnte: Odo Marquard, der vor wenigen Tagen im Alter von 87 Jahren verstarb.

Philosophie war aus einem kühnen Grunde mein erstes Nebenfach. Und Odo Marquard hielt die erste Einführung ins Fach für alle Studierenden. Ich erinnere mich daran kaum, aber es muss zumindest so unterhaltsam gewesen, dass er für mich die zentrale Figur im Fach wurde. Mein erste Referat über die Ästhetik Wagners machte ich bei ihm, ebenso wie die Zwischenprüfung, die Magisterprüfung und ich bat ihn, der einem ja nichts abschlagen konnte, auch bei der Dissertation mitzubegutachten, da war er schon emeritiert.

Immer aber denke ich daran, wie er zur Uni zu fahren pflegte, nämlich mit dem Bus. Und ich hatte mehrfach die Möglichkeit, in seiner Nähe zu sitzen, auch im zweiten oder dritten Semester, um ihn zu fragen, wie es denn mit der Zwischenprüfung gehen würde. Das wusste er zu beantworten, obwohl ich ihn ziemlich von der Seite ansprach. Und er sprach mir Mut zu.

Verschwommene Zukunft. Foto: Hufner
Verschwommene Zukunft. Foto: Hufner

Das Wagner-Referat: Ich konnte meinen Text erzählen und war nach 40 Minuten fertig, in jeder Hinsicht und so aufgeregt, dass ich danach nichts kapierte. Es kamen  Fragen, die ich kaum zu beantworten wusste, aber sein damaliger Assistent, Franz Josef Wetz, einer der klügsten und pädagogische erfahrensten Menschen, die ich je hören konnte, griff mir immer unter die Arme. Es war kein Verhör sondern ein Gespräch, was Marquard immer suchte. DIe Geste, einen überzeugen zu wollen, war ihm gänzlich fern. Wenn jemand anderer Meinung war als er selbst, war das nie sein Schaden. Selber Denken war prima, wenn man etwas anderes gut nachgedacht hat, war es auch nicht schlecht. Irgendwann würde es ja sich ändern.

Seine philosophischen Streiche waren mir aber auch einigermaßen fremd. Er galt ja als konservativ und das war so mit Eisler und Adorno infizierten Studenten damals etwas suspekt. Da waren die einen noch mit Marx beschäftigt, den Marquard natürlich als Philosophen ansah (wie sich in einer Fangfrage in der Zwischenprüfung herausstellte), die nächsten bei Sloterdijks zynischer Vernunft, die nächsten beim kommunikativen Handeln von Habermas und einige bei Foucault & Co. Allerdings war dieser Skeptizismus nicht schlecht für einen Studienbeginner, der sein vornehmstes Vergnügen damit hatte, alle gegeneinander auszuspielen. Denn in der Bedrängnis sieht man bald, was kaltes und was warmes Feuer ist.

Daneben stand sein Ausdrucksvermögen sehr hoch, dass da jemand reden konnte und fesseln, seine Sprache atmete und floss [was aber wirklich viele Profs in Gießen konnten, Kanitscheider oder Vollmer besonders. Und überhaupt seine Haltung den Dingen gegenüber (also auch mir). Immer etwas gelassen und entspannt. Diese Gemütlichkeit war ja doch nicht ohne Biss.

„… frei ist, wer lachen und weinen kann; und Würde hat der, der lacht und weint ..“.1Odo Marquard, Apologie des Zufälligen, in: ders.: dass, Stuttgart 1986, S. 135.

Darüber hinaus bleiben seine Hinweise auf die Texte von Reinhart Koselleck und Hellmuth Plessner (dessen Schriften Marquard mit herausgegeben hat) haften. Aber eben vor allem seine Präsenz am Ort Gießen, seine präzise Ruhe. Und wenn man es genau nimmt und eben dieses Denken über das Lachen, das Lächeln und das Weinen zusammenführt, berührten sich Marquard, Plessner und Adorno eben doch.

Für meinen Vater habe ich damals einen Schein bei ihm gemacht. Ich glaube, meinen Vater hat es gefreut und Odo Marquard, hätte er es gewusst, schlimmstenfalls amüsiert.

 

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Fussnoten:

  • 1
    Odo Marquard, Apologie des Zufälligen, in: ders.: dass, Stuttgart 1986, S. 135.