19. Mai 2024 Die Masse lebt

Mülheim-Regensburg über Bingen

12.4.2004

Bahnfahren

Da kann man sagen, was man will, obwohl ich zunächst sauer war wegen der Zugverbindung nach Regensburg, die mich erst um halb zwölf zuhause sein ließ, ist es doch eine der schönsten Strecken links vom Rhein über Bonn und Mainz zu fahren. Die späte Nachmittagssonne und dazu wahrlich hübsche Musik aus dem ICE-Kanal No. 1. Da fährt man durchs Mittelalter an Boppard und St. Goar vorbei, die Loreley kitzelnd an etwa Kilometer 553 und es klingt schön das Oktett von Schubert an die Ohren. Geradeso schlecht, dass es wieder gut klingt (wenn nur das Rauschen nicht wäre, warum es überhaupt muss sein?). Gut, vielleicht rauscht der Rhein schließlich auch ein bisschen. Wenn sich der Vorabend so dahin schleicht, dann hat es seinen besonderen Reiz, man sieht Wohnmobilparks direkt neben Friedhöfen (was einem dazu alles einfallen könnte: ganze Romane, halbe Gedichte), alte Kurhäuser auf der anderen Rheinseite wirken verwittert und aus der Zeit heraus. Gerne denkt man sich dann einen Kurlaub dort mit abendlichem Wein aus den Hängen, die der Rhein sich herausgebrochen hat. Beneidenswert die Menschen, die am Ufer dieses Flusses ihre Gedanken vorbeistreichen lassen. Die Ruhe in der leichten Unruhe und der Bewegung von Schatten werfenden Gegenhängen. Das hat etwas. Und nun geht hinter Rüsselsheim die Sonne unter in tiefem gelborange. Schon hat sie die Kraft ins Auge zu stechen, noch wärmt sie nicht aus ganzem Herzen ihrem Innersten.

Auf Kanal 1 läuft mittlerweile Spohrs Oktett, welchen nach Schubert problematisch wirkt. Doch dafür, dass ich es so gut wie gar nicht kenne, hinterlässt es einen überraschend aufgeweckten Eindruck (wenn nur nicht die Ankunftsdurchsagen so brutal hineinblasen würden) mit Zartheit (wollte ich nämlich gerade schreiben) und mit viel Finesse. Neben Schubert spürt man die eben ganze andere Empfindung von Zeit bei Spohr. Das klingt mehr nach Wertarbeit, aber doch in einem besseren Sinne als einem »Abarbeiten«, einem Machenmüssen. Die Musik ist durchaus auch sehr locker und überlässt sich spontanen Einfällen. Hübschhübschhübsch.

Für die Einfahrt nach Frankfurt am Main Hauptbahnhof passt besser jedoch »Für Irina« von György Ligeti. Das bringt die Stimmung zwischen untergegangener Sonne und der trüben Feierlichkeit dieser Stadt auf wundersame Weise zusammen. Viertel nach acht Uhr.

Jetzt dann die CD3 auf Kanal 1 mit »Streifzügen durch die Avantgarde« – das war ja der ursprünliche Grund zum Abhören des ICE-Kanals. Jetzt hört man gerade eine nette Hoppeltoppel-Musik, womöglich von Hindemith der einen aus Frankfurt herausplappert.

Gut, mache ich ein Spiel draus und schaue später unter www.bahn.de nach, was da gespielt wurde. Nach Hindemith (? – es war Bertold Goldschmidt, knapp daneben) wohl Kagel »Märsche, um den Sieg zu verfehlen« (und das, wo der Zug voller Soldaten ist). …

? Schulhoff oder Strawinsky Orchesterstück, sehr bunt orchestriert. (Henze, Ned Rorem angeblich, nuja)

? Ausschnitt aus einem Violinkonzert, amerikanisch, Copland? (Henze, Ned Rorem angeblich, nuja)

? Bläserstück, eigentlich typisch Messiaen nach Harmonie und Rhythmus? (Oha, es war: Signals From Heaven: Day Signal von Toru Takemitsu)

? Rätselhaft, Xylophon, Klavier, Orchester, laut – auch sehr bunt, nicht deutsch, quirrilig, polyrhythmisch, englisch oder amerikanisch, ein bisschen wie Ives, aber dafür ein bisschen zu gerade oder zu flüssig, und – nicht böse gemeint – zu sorgfältig. Müsste was Späteres sein als Ives (späte 60er und 70er Jahre). Sehr interesant. (War am Ende Magnus Lindberg, Aura – 4.Satz – das freut mich)

! Okay, kenne ich, obwohl hier bearbeitet für Violine und Harfe, entweder aus den Six Melodies für Violine und Klavier (ja doch) oder Streichquartett, letztes Stück Winter. Werden die Six Melodies sein. Apart, amerikanische Antike sozusagen.

! Okay, kenne ich, obwohl nicht in dieser Fassung. »Spiegel im Spiegel« von Arvo Pärt, statt Klavier ebenfalls mit Harfe. Ein wunderbares Stück, eigentlich eine Etüde. Die Melodie der Violine nach itterativem Prinzip aufgebaut. Merkt man aber nicht, dass sich diese warme Musik so sehr mathematischen Konstruktionsprinzipien verdankt.

? Violinsolo-Einleitung. Ergänzt sich mit anderen Streichern. Nach Charakter und Freiheit der Erfindung würde ich sagen Schostakowitsch. Auch sehr schön. Dann etwas wie ein Scherzo, das Mahler anklingen lässt. Ulkige, überdrehende Intervall-Sprünge. Könnte aber auch Strawinsky sein, hat etwas, was nach Ballett für Violine klingt und die Dissonanzen klingen doch sehr robust und gewollt, das wäre meines Erachtens bei Schostakowitsch etwas feiner oder gröber. (War: Serenade After Plato’s “Symposium”: 1. Phaedrus-Pausanias: Lento-Allegro Marcato von Leonard Bernstein – kann man gelten lassen ;

? Orchesterstück mit Chor. Brachial, marschartig, singen wohl sowas wie »Dies Irae«. Kenne ich nicht, könnte aber Penderecki sein oder sowas. Filmreife Musik, wirkungsvoll, so gesehen Penderecki nicht möglich. (War Penderecki: Polnisches Requiem)

? Jetzt wirklich Filmusik mit Sologesang. »Nun liebe Kinder gebt fein acht, ich bin die Stimme aus … ich habe euch etwas mitgebracht. … Ich singe, bis der Tag erwacht.« Hmmm. Jemand, der Berg gut kennt. Henze, Reimann? Obwohl doch eher früher, muss ein Zeitgenosse Bergs sein, aber ein sehr guter. Für Berg alles etwas zu glatt, zu sehr auf oberflächige Wirkung aus. Hmmm. (Überraschung: Orchesterlieder nach Texten und Musik der Gruppe Rammstein: 5. mein Herz brennt – Orchesterlied V, Komponist Torsten Rasch – sehr erstaunlich, wie man es auch dreht und wendet).

! Nun gut, Phil Glass, klingt so wie es klingt. Dröge, bemüht. (Irrtum, war Michael Nyman, Streichquartett).

? Nochmal Streichquartett, repetitiv, mit so einem Kronos-Quartett-Klang. Schon nett, aber auch nicht mehr, kein Volans, kein Curran. (High Life For Strings, Komponist David Byrne)

? Bläserstück + Rasseln + Sprache + eine Art Collage, hibbelig. Ein bisschen affig modern klabauternd. (Mysteries Of The Macabre Komponist György Ligeti – schwach, ärgerlich).

Hallo – und jetzt der Krach von Universal, das diese Mischung anbietet. »Klässik-Känal SsiDieh 1«: Und ab geht der Beethoven mit seiner fünften Sinfonie. Balllaballa. Nu is gut.

Überhaupt hat die Bahn dieses mal einen guten Eindruck hinterlassen. Auf der Hinfahrt gab es zwar ein bisserl Aufregung, weil der abfahrende Zug aus Regensburg zehn Minuten zu spät war und Nürnberg die Umsteigezeit nur sieben Minuten betragen hätte. Aber man war freundlich und wollte den Anschlusszug warnen. Ist auch so passiert. Das bisserl Verspätung bei der Abfahrt konnte der nämlich sowieso kompensieren in Würzburg, wo er zehn Minuten Aufenthalt haben sollte. Die Züge scheinen mittlerweile gerne zu stehen auf den Bahnhöfen. Lieber so, als schon weg.

 

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2 Kommentare

  1. Früher gings für eine

    Früher gings für eine Fahrkarte zum Preis von 200 Mark ohne Zugbindung quer durch Deutschland, und man konnte die Karte einen Monat lang nutzen. Zu bekommen war sie problemlos auch noch 3 Tage vor Beginn der Reise. Heute gibts TICKETS für 104 Euro, ‘türlich am COUNTER; aber schon 1 Woche vorher ist das Kontingent erschöpft, und man hat sich gefälligst an einen Zug zu binden, der morgens in aller Herrgottsfrühe fährt. Sollte es einem am Zielort gefallen und man dort bleiben oder gar die Fahrt unterbrechen wollen, um Freunde zu besuchen, die zwischen Heimat- und Zielort wohnen, verfällt die Karte. Und wehe, man verpaßt den Zug, an den man sich gebunden hat. Pech gehabt – auch wenn den ganzen Tag halbleere Züge fahren.

    Solch einen Dreck können sich nur Leute ausdenken, die zuviel Geld und zu wenig Verstand haben.

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