19. Mai 2024 Die Masse lebt

Maßlose Maße

Es gehört vielleicht zu den ganz besonderen Eigentümlichkeiten, insbesondere bei den Deutschen, dass sie sich in fast jeder Situation als zu kurz gekommen auffassen. Egal wo, immer benehmen sich vor allem die anderen falsch. Im Verkehr, im Beruf, in der Schule, der Kultur, im Sport. Und in der Politik und Bildung. Es ist einigermaßen nicht nachvollziehbar, woher dieses Ohnmachtsgefühl stammt. Obwohl, ein Ohnmachtsgefühl ist es ja gar nicht, sondern eher eines des permanenten Neids. Da kann man machen, was man will. Ist man zu zuspitzend, gilt man als unausgewogen; ist man ausgewogen, gilt man als nivellierend.

Es scheint kein Glück darin zu liegen, im Federkampf um Solidaritäten. In vielem Gesagtem ist vieles nicht gesagt, aber doch immer ist etwas gemeint. Gemeint ist aber immer das Ungesagte. Was in der Literatur und ihrer Analyse zum festen Bestandteil des interpretatorisch Hinzuschießenden ist, was derjenige, der Texte verfasst, nicht kennt, mithin was einen Text über sein Gesagtes Hinausgesagtes enthält, ist im normalen Textverlauf etwas Verschwiegenes oder, schlimmer noch, Mitausgesagtes. Dagegen kann man sich nicht abdichten, weder mit Dementi noch mit den blogsprachlichen Dis(claimern) oder (closures).

Heinrich Zille: Kinder und Kinderspielplätze, acht Jungen üben Handstand.Heinrich Zille: Kinder und Kinderspielplätze, acht Jungen üben Handstand.

Denn es ist eine Sache des gefühlten Angriffs auf persönliche Integrität. Sachen werden an Personen aufgemacht und aufgerechnet. Das reicht im schlimmsten Fall bis zur Denunziation. Freilich unter dem Deckmäntelchen einer Aufklärung. Man könnte das alles ganz selbstverständlich als Stilmittel abtun. Die Provokation oder die Polemik als Mittel der Verständigung sowie als Kommunikationsform, auch die Satire, sind dabei natürlich auszunehmen. Denn dort wird der Fall als solcher, wenn dies gelingt, zur Nebensache. Historische Meister der Anwendung dieser Technik sind Karl Kraus oder Friedrich Nietzsche. Bei letzterem führt dies zu einer ulkigen Situation, dass nämlich der gleiche Fall, mal so, mal andersherum, gewertet ist. Richard Wagner wäre da die Figur des argumentatorischen Kreisverkehrs. Doch zurück zum Thema. Wenn man so zurückschaut in die 50er und 60er Jahre, dann fällt einem ein Thema der Debatte auf, welches heute irgendwie verloren ist. Hanns Eisler bemerkte es, wenn er immer wieder von Freundlichkeit spricht und sie als wichtiges Merkmal einer verständigen Gesellschaft bezeichnet. Oder wenn Alexander und Margarete Mitscherlich in der Vorbemerkung zu "Die Unfähigkeit zu trauern – Grundlagen kollektiven Verhaltens" feststellen:

So wird kaum jemand leugnen, daß es in Deutschland keine kleine Zahl von Menschen gibt, die höflich, anteilnehmend, rücksichtsvoll sind, dies alles nicht aus sittlichem "Dressatgehorsam", weil man ihnen "Manieren" beigebracht hat, sondern weil sie gelernt haben, die Eigenart des Partners zu achten und sich für ihn zu interessieren. Die Einschränkung ist aber nicht zu vermeiden, daß diese freundlichen Deutschen etwa im Straßenverkehr oder in anderen Rücksicht fordernden Situationen nicht der den Ton bestimmende, sondern ein mehr oder minder "stummer" Bevölkerungsanteil sind. Der freundliche Deutsche, um es in zugespitzter Form zu sagen, hat im eigenen Land keinen zwingenden Vorbild-Charakter. Obgleich es ihn als angenehme Überraschung gibt. (…) Die aufklärerische Absicht der Autoren ist es, die Chancen für den freundlichen Deutschen zu vermehren. (Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, Frankfurt/M. o. J., S. 10 f.)

Das liest sich rückblickend als Illusionsmeldung. Im Gegenteil man sieht eine darüber hinweggehende Kontinuität. Redunzl hat heute im Zusammenhang mit Zappas Berlin-Bild eine ähnliche Bemerkung fallen lassen. Mit der Freundlichkeit ist es natürlich dann vorbei, wenn man sich selbst abgekanzelt sieht.  Man verliert dann das Maß und es gelten plötzlich ganz andere Maßstäbe. Man behandelt andere, wie man selbst nicht behandelt werden will, man sieht Fallstricke, die andere nicht sehen, man sieht zugleich mit anderen Augen, aber nicht aus dem Blickwinkel einer anderen Perspektive sondern indem man die andere Perspektive gleich okkupiert. Mitfühlen wird zur Zwangshandlung, die nur verdeckt, dass man selbst den Faden verloren hat. Oder: Mitfühlen wird zur strapazierten Schadenfreude. Beklatschungsgeilheit.

 

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2 Kommentare

  1. Welche Bemerkung? Zappas
    Welche Bemerkung? Zappas Bemerkung? Den Zusammenhang versteh ich jetzt nicht. Hab’ ich was falsch gemacht? Hilf’ mir auf die Sprünge. Wir sind ja gerade eh alleine könnte man meinen.

  2. Ja, sind wir, meine ich
    Ja, sind wir, meine ich auch. Also Zappa hat da die Kontinuität zwischen Eltern und Kindern ausgemacht. Und ich und die Mitscherlichs machen da eine Kontinuität der Unfreundlichkeit bei den Deutschen aus. So banal würde ich das mal sehen wollen.

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