8. Mai 2024 Die Masse lebt

Nachdenken über einen Engel

«Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.» (Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte 1940)

Immer wenn ich diese These von Walter Benjamin zu verstehen versuche, scheitere ich an meinen begrenzten Fähigkeiten, komplexe Sachverhalte zu erfassen, die über einfache Aussagesätze wie „Es ist Schnee gefallen“ hinausgehen. Doch selbst in solchen Sätzen steckt viel mehr Unschärfe als man gemeinhin annehmen könnte. Verstehen ist niemals einfach. Einfach ist es dagegen, zu poltern, wenn man nämlich nichts bis wenig von einer Sache versteht, hat man schließlich zur Not eine Meinung und gegebenenfalls eine laute Stimme und dazu, je nach Macht, einen Resonanz-Chor, der da miteinstimmt.

Arno Lücker hat mit seinem Beitrag zum „Bad Blog Of Musick“ über die gegenderte Zauberflöte diese zunehmende Verödung des Nachdenkens wunderbar vorgeführt. Nicht nur, dass es Menschen gibt, die diese Satire als Wahrheit wahrnehmen, wer ist denn nicht täuschbar, sie nehme sie für bare Münze, damit sie ihnen als Sprungbrett für das obengenannte Verhalten des Poltern und Krawallens nutzen können. Im Zeitalter instantaner Kommunikationsmittel und der Sendefähigkeit fast aller Individuen in die Öffentlichkeit hinein, ergibt sich eine Popanzbildung, die man früher einmal einfach weggelächelt hätte. Gegenwärtig formiert sie sich zu Blöcken massiver Bedrohungen.

Ja, heute nacht ist in Kleinmachnow Schnee gefallen und ich habe den Fußweg vor dem Haus freigeschippt, damit nicht jemand auf dem Schnee und dem nicht sichtbaren vereisten, glatten Boden darunter zu Fall kommt. Dafür kommt „Streu“ darauf, das angeblich völlig menschen- und tierpfotenfreundlich ist. Aber knirscht und in Ritzen von Sohlenprofilen sich ansammeln kann und damit vielleicht jemandes Parkett zerkratzen könnte. Es ist fast unmöglich, eine Katastrophe dadurch allein zu verhindern, dass man sich bloß „vernünftig“ verhält. Aber deshalb das Unwahrscheinliche genauso hoch werten wie das Erwartbarere? Das wäre absurd. Aber was waren das noch für Zeiten, als man großes Unheil darin erwartete, dass man sich zu Tode amüsieren würde.

Lesen Sie zum 100. Geburtstag von György Ligeti in dieser Woche in der HörBar der nmz die genauen Hörerkundungen von Michael Kube. Ich finde es immer wieder faszinierend, was man alles in Worte fassen kann, wenn man genau hinhört. Differenziert hinhört. Und mithinhört dann.

Vor 84 Jahren am 26. September 1940 „nahm sich der jüdische Schriftsteller Walter Benjamin das Leben. Ihn trieb die schiere Not: Denn nach einer beschwerlichen Flucht sollte er zurück nach Frankreich geschickt werden, wo die Gestapo auf ihn wartete. ‘Mein Leben wird ein Ende finden in einem kleinen Dorf in den Pyrenäen, wo mich niemand kennt’, schrieb er in seinem Abschiedsbrief an Theodor W. Adorno.“ Lesen Sie hier weiter.

Ich vergesse niemals mehr Sprachsequenz am Ende des Hörspiels „Muttersprachlos“ von Juan Allende Blin in der der Sprecher sagte: „Wer hören will, der hört auch aus der Ferne. Wer nicht hören will, der hört auch aus der Nähe nicht.“

 

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