Kritische Masse

amt für vermassungsschutz

Wolfram Weimer als Apologet des Muffs

Ein Blick zurück nach 1965. Cancel Culture ohne Internet und Soziale Medien! „Nach der Uraufführung von Canettis »Hochzeit« am 3. 11. 1965 in Braunschweig erstattete ein Anonymus Strafanzeige »wegen Erregung geschlechtlichen Ärgernisses« gegen den Intendanten des Staatstheaters Braunschweig und gegen den Regisseur der Aufführung; Adorno wurde von der Dramaturgie des Theaters um eine Stellungnahme gebeten. – Der Wortlaut der Anzeige, auf den Adorno sich bezieht, findet sich in der »Neuen Braunschweiger« vom 12./13. 11. 1965 abgedruckt.“ (Fußnote zum unten zitierten Text.)

Aber, hey, unser neuer Beauftragter für Kultur und Medien im Nebenzimmer des Bundeskanzlers Wolfram Weimer flaniert in einer Talkshow der ARD gockelnd umher und behauptet kackfrech, man dürfe keinen Karl May mehr lesen (hier nachzusehen) und die BILD-Zeitung springt ihm bei.

Maischberger Kulturstaatsminister Weimer zerlegt grüne Verbotspolitik Politik BILD de
Maischberger Kulturstaatsminister Weimer zerlegt grüne Verbotspolitik Politik BILD de

Verlinke ich nicht, aber der Screenshot beweist auch hier, wie genau man es bei der BILD mit den Fakten nimmt, und die sind hier nicht mal diskussionsbedürftig, denn bislang gilt Weimer noch als parteilos.

Aber man zitiert ihn hier mit den Worten: „Wir wissen aus Umfragen, dass nur noch 40 Prozent der Deutschen der Meinung sind, du kannst in Deutschland frei deine Meinung sagen, ohne irgendwelche Nachteile zu erwarten. Noch in den 90er Jahren haben 95 Prozent gesagt: Natürlich kannst du alles sagen, was du denkst.“

Der Faktencheck über Perplexity ergibt dagegen:

  • Richtig ist: Nur noch etwa 40 Prozent der Deutschen haben laut aktuellen Umfragen das Gefühl, ihre Meinung frei äußern zu können.

  • Falsch ist: In den 1990er Jahren lag der Wert nicht bei 95 Prozent, sondern bei etwa 78 Prozent. Die 95 Prozent wurden in den 1970er Jahren erreicht, nicht in den 1990ern.

Die Aussage ist also in Bezug auf die aktuelle Zahl korrekt, übertreibt aber die frühere Zustimmung in den 1990er Jahren deutlich.

Was bedeutet das? Erstens, dass unser Kultur- und Medienbeauftragte sich Daten ausdenkt, wie es ihm gefällt. Zweitens die Analyse, woher diese Stimmung (es ist ja eine Stimmung, ein Gefühl!) kommt, nicht geleistet wird, sondern einer Wokeness-Empfindung geschuldet ist. Wie die sich demografisch verteilt, wer welches Gefühl hat: Fehlanzeige. Selbst das mit den 40 Prozent, auch hier ist Weimer unpräzise, weil sich eine entsprechende Allensbach-Umfrage aus dem Jahr 2023 auf „politische“ Äußerungen bezogen hat.

Selbst Chat GPT ist da in Version 4 akkurater als der Beauftragte.

Faktencheck dazu:

  • Es gibt tatsächlich Umfragen, die zeigen, dass das subjektive Gefühl der Meinungsfreiheit in Deutschland gesunken ist. Viele Menschen haben den Eindruck, man könne seine Meinung nicht mehr ohne Nachteile äußern.

  • Eine bekannte Quelle ist der Allensbach-Meinungsfreiheitsindex, der regelmäßig erhebt, wie viele Menschen glauben, ihre Meinung frei sagen zu können. Dort zeigt sich:

    • In den frühen 1990er-Jahren sagten etwa 78–80 % der Befragten, sie könnten ihre Meinung frei äußern. 95 % ist also zu hoch gegriffen.

    • In den letzten Jahren (z. B. 2021–2022) waren es noch etwa 45 %–50 %, die diese Meinung teilten.

Der Satz „nur noch 40 %“ ist also ungefähr richtig (je nach Umfragejahr und Fragestellung), aber die Behauptung, dass es in den 90ern 95 % waren, stimmt so nicht. Der historische Wert lag eher bei knapp 80 %.

Zur Interpretation:
Das heißt nicht, dass die Meinungsfreiheit gesetzlich eingeschränkt wurde. Sondern es zeigt eher, dass viele Menschen Angst haben, gesellschaftlich angegriffen oder ausgegrenzt zu werden, wenn sie ihre Meinung äußern. Das ist ein Unterschied zwischen gefühlter und rechtlicher Meinungsfreiheit.

Und deshalb darf man also keinen Karl May mehr lesen? Herr Weimer, Adorno sollten Sie allerdings noch lesen. Denn der Muff, mit dem Sie die deutsche Kultur überziehen möchten, den Sie als liberale Mitte proklamieren, den haben wir genug in der aktuellen Politik, den brauchen wir in Kunst und Kultur gerade nicht. Womit bitte nicht ausgeschlossen sei, dass manch ein sich avantgardistisch gebendes Kunstwerk ebenso Muff sein kann. Der Muff ist überall zu finden. Sie, Herr Weimer, sind gerade unterwegs, der Ober-Muffti zu werden.

Adorno: Gegen den Muff (1965)

„Mit der Unterstellung, daß eine Kulturdiktatur – im Sinn der Moderne – bei uns herrsche, während doch gerade künstlerisch nicht konformistische Stücke immer wieder der Diffamierung begegnen, läßt er jenen Projektionsmechanismus erkennen, der für Rechtsradikale, für autoritätsgebundene Persönlichkeiten so überaus bezeichnend ist. Ebenso ist die Unterstellung, daß der Denunziant, wenn er seinen Namen nennte, »Repressalien« zu befürchten hätte, die seine »körperliche Integrität unmittelbar gefährden könnten«, eine unverkennbare Verkehrung des Sachverhalts. Repressalien haben im allgemeinen Menschen zu befürchten, die den konventionellen Anschauungen zuwider handeln, so wie jüngst Grass oder Silex, zu schweigen von den Düsseldorfer Bücherverbrennungen. Wer sich so verhält wie der Anonymus, wird des Beifalls gerade derer sicher sein, die zum Terrorismus neigen. Dieser Zusammenhang verweist auf den Kern der Angelegenheit: hier geht es, mit der Moral als nichtigem Vorwand (weil nämlich keinerlei Verletzung der Moral, nicht einmal der konventionellen, vorliegt), in Wahrheit um die moderne Kunst. Wem es mit dem Grundgesetz ernst ist, das die Freiheit der Kunst ausdrücklich garantiert, müßte mit aller Energie derartigen Versuchen widerstehen. Es wäre ein unerträglicher Zustand, wenn in kleineren deutschen Städten in ästhetischen Fragen Grundsätze proklamiert würden, die, als zurückgeblieben und unwahrhaftig durchschaut, in großen Städten zwar keine Repressalien, aber Gelächter provozieren müßten.1Band 20: Vermischte Schriften I/II: Gegen den Muff. Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 17861 (vgl. GS 20.2, S. 497)

PAUSE

Das führt mich zu einer ganz anderen Frage. Warum hat diese Person Wolfram Weimer ein so großes Interesse, dieses Amt eines Staatsministers beim Bundeskanzler als Beauftragter für Kultur und Medien zu bekleiden. Was treibt ihn an? Das Geld kann es ja nicht sein. Ruhmsucht wohl auch eher nicht. Reiselust? Oder ist er nur ein Strohmann für eine ganz andere Agenda, die er nur ausführt, deren Strippen aber woanders gezogen werden. So ein Kultur-JD-Vance?

Was wurde aus seinem Versuch, die großen Medienkonzerne auf der so zu besteuern, dass sie einen gewissen Prozentsatz aus den Erträgen ihres Werbegeschäfts abgeben müssen. Oder ist die an sich gute Idee eben im Wissen, dass man sie nicht umsetzen wird können, der Kultur- und Medienszene als leeres Versprechen gegeben worden. Hört hört.

Wolfram Weimer hat sich in der Talkshow ziemlich unwissend gezeigt, falsche Daten vorgeführt, diese absichtlich falsch interpretiert, sein Vorgehen gegen links (und rechts) dann auf die anwesende GRÜNE übertragen. Er, der die liberale Mitte weiten möchte, möchte die GRÜNEN daraus entfernen. Es bliebe wirklich ein kulturkonservativer Strudel des Mittelmaßes übrig. Geschmacklose, langweilige, anödende Kunst. Warum will er das?

Fussnoten:

  • 1
    Band 20: Vermischte Schriften I/II: Gegen den Muff. Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 17861 (vgl. GS 20.2, S. 497)
Enable Notifications OK No thanks