17. Mai 2024 Die Masse lebt

Reanonymation

Es ist interessant, zu beobachten, wie Phänomene und Probleme verschwimmen, nur weil man sich wenig und zu kurze Gedanken macht. Die aktuelle Diskussion über den Wert oder Nutzen von Anonymität ist so ein Fall. Da hat man beispielsweise Anonymität als Inbegriff des Schutzes der Privatsphäre und auf der anderen Seite die Anonymität des Individuums in der Masse. Einmal eine Art Schutzmechanismus zur Wahrung der Identität und im anderen Fall deren Auflösung.

Im Fall der sogenannten Social Media prallt beides aufeinander. Der Wunsch nach Einzigartigleit und Individualität, eine Art umgedrehten Egoshootings und gkleichzeitig die Furcht vor Erkennbarkeit, das berüchtigte “Wenn das mein künftiger Arbeitgeber liest/sieht/hört”. Und auch da eine interessante Verkettung. Ich nehme an, die meisten wollen dabei vor allem “ihre” Daten mindestens selbst in der Hand haben. Markiert man jemanden auf einem Foto, kommt es vor, dass dieser die Markierung wieder löscht.

Die vielfach bemerkte logische Inkonsequenz ist dabei, dass man im Fall von Facebook zum Beispiel, auf diese Bühne tritt, wohlwissend, dass man die Daten einem Netzwerkbetreiber überantwortet, zugleich nichtwissend, was dieser damit machen kann oder es potentiell befürchtet. Die Konsequenz, sich einen anderen Weg zu suchen, beschreiten aber dann doch nur wenige. Denn man rechnet gegen. Welches Risiko nehme ich in Kauf, welches Datenrisiko bin ich bereit einzugehen, auf der einen Seite, auf der anderen, welchen Benefit ziehe daraus. (Das dürfte auch der Grund dafür sein, dass es im Bereich social media fast immer nur “einen” Platzhirschen gibt.)

Zu denken, man könne dem entgehen, wenn man sich “anonym stellt”, dürfte nicht ausreichen. Denn wie es ein Misstrauen gegen Datensammler gibt, gibt es ein Misstrauen gegen Anonyma. Was sage ich in einem Biergarten, was gebe ich dort preis. Man wird wohl die Situation taxieren. Wenn dabei der Gegenüber immerhin erkennbar ist, seine Reaktionen wahrnehmbar sind, wird man einigermaßen eine eigene Position dazu finden. Bleibt das Gegenüber unbekannt auch in seinen Reaktionen, wird man vermutlich vorsichtiger agieren. Es sei denn man setzt sich selbst eine Maske der Unkenntlichkeit auf. (Auch hier erkennt man, wie Kommunikation durch die Umstände strukturiert wird.)

Ganz im Gegensatz dazu besteht auch die Möglichkeit jemanden absichtlich seiner Personalität zu berauben. Man macht die Person zu einer Sache. Das Verfahren wird zur Maßregelung benutzt. In Gefängnissen werden unter Umständen Namen zu Nummern, ihre Individualität wird geschrumpft.

Im Grenzwertbereich: Man stelle sich einmal eine Gesellschaft vor, in der nur mehr Anonyma untereinander in Beziehung stehen. Keine Person ist als solche erkennbar. Wie sähe das wohl aus? Alle verdecken sich, niemand ist erkennbar. Wäre das reizvoll? Würde das dazu führen, dass sich alle plötzlich ohne Zwang und Angst äußern könnten. Vielleicht wäre das wirklich der Fall, nur wenn würde das wirklich angehen und interessieren.

Anonymität ist doch nur dann tatsächlich produktiv, wenn aus dem Intentionen der Handelnden eine personale Struktur hervorgeht. Es gibt genügend Beispiele von Menschen, von denen ich nicht weiß, wer sie personalausweistechnisch sind (wie sie aussehen, wo sie wohnen, was sie arbeiten), von denen ich aber ahne, was sie fühlen, was sie denken und wie sie fühlen und wie sie denken. Informelle Mitarbeiter ihrer eigenen Persönlichkeit sozusagen. Und das macht auch einen Reiz aus, Denunzianten ihrerselbst. Ja, man kann mit solchen Begriffen die Dinge auch einmal anfassen.

Die struktuelle Funktionalität von “Anonymität” ist meines Erachtens nicht klärbar. Mir persönlich wäre es natürlich lieber, außer bei Kunstfiguren, dass man sich namentlich erklären kann. Und zwar so, dass eben Kritik durch die Person getragen werden kann, ohne dass sich daraus negative Folgen ergeben. Anonymitä nehmen aber momentan beide in Anspruch: Derjenige, der sich nicht traut, etwas zu sagen, weil er Repressalien befürchtet wie derjenige, der einfach nur ein fieses Früchtchen ist, um jemandem zu schaden – der aktiv tätige IM wie der Denunziant.

 

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