19. Mai 2024 Die Masse lebt

Als das Dorf noch nicht global war

Es ist gar nicht so lange her, da war die Frage der Ausbildung der Heranwachsenden vor allem auch eine Frage des Ortes an dem man lebte. Jemand auf dem Dorf hatte nur mit Mühe und viel Hilfe die Möglichkeit, einen Platz in einer anderen Zukunft zu finden als derjenigen, in der er sich befand.

Mein Vater war sogar von einem Dorfe noch zusätzlich entfernt, weil er tief im Wald aufwuchs. Sein Vater war Förster. Mit Hilfe von Blicken von auswärts, also vom Dorflehrer, wurde er allerdings als ganz pfiffig eingeschätzt und man organisierte ihm die Möglichkeit, eine höhere Schule zu besuchen.

Dazu muste er aber sein Heim verlassen und an einem anderen Ort untergebracht werden. Wenn man Glück hatte, war es ein guter Ort und freundlicher Umgebung. Wenn man Pech hatte, nicht. Die ersten Jahre hatte er Pech, danach wurde es besser. Er lebte mit zwei anderen Jungs gemeinsam bei einer Frau, die wohl bessere Möglichkeiten anbot.

Er machte einen Abschluss und konnte schließlich studieren. Viele aus dem Dorfe blieben jedoch ihr Leben lang dort “gefangen”. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde auch die Infrastruktur um das Dorf herum so deutlich verbessert, dass es auch für die dortige Jugend Alternativen gab.

Zugang zu den Ressourcen von Wissen und Leben haben sich seither in vielerlei Hinsicht verbessert. Die Stadt bot immer schon grundsätzlich eine bessere Möglichkeit, sich bildungstechnisch zu entwickeln. Allein die vielen Kontakte aber auch die Infrastruktur der Bildungseinrichtungen versprach die Erweiterung von Horizonten. Mein Vater präferierte aus diesem Grund später, als er selbst Kinder hatte die Stadt als Ort des Lebens. Direkt nach dem Krieg hätte man die Alternative aber auch anders sehen können. Die Stadt verhieß, zumindest was die physische Versorgung anging, nicht die besseren Möglichkeiten. Das war inkauf zu nehmen.

Mein Vater kommt aus dem Wald. Meine Mutter kommt aus dem Dorf. Über die Wirren der Nachkriegszeit ging es für die einen nach Salzwedel, Vechta oder Reifenberg. Es war ein Hin- und Her. Zwischendrin weitere Stationen. Die Familie zerfiel in kleinere Gruppen von denen die einen schlussendlich über Tinnen nach Wolfsburg zogen, die anderen nach Rheinland-Pfalz (Reifenberg, Zweibrücken). Mein Vater mit seiner Frau und den insgesamt fünf Kindern am Ende, seine Eltern und Schwester verbrachten ihre Zeit bis in die 60er Jahre hinein in Tinnen.

Aber welche Perspektive? Kinder sollten Musikunterricht bekommen, sollten auf weiterführende Schulen gehen. Eine entsprechende Stelle wurde dem Vater als Lehrer in Aussicht gestellt, aber es wurde nichts daraus. Aus dem einen Randgebiet (zur niederländischen Grenze) zog man daher in eine Stadt, die viel Neues versprach und auf Kinder eingestellt war – nach Niedersachsen. Zielort: Wolfsburg. Und erneut ins Grenzbebiet, dieses mal zur SBZ (sowjetisch-besetzten Zone). Und hier verbrachte ich dann auch meine Kindheit und Jugend. Es war bald alles vorhanden, von der Schule, der Kirche, dem Einkaufszentrum, der Stadtteil-Bibliothek bis zu den Einrichtungen des Stadtkerns mit einer modernen Musikschule zum Beispiel.

 

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