8. Mai 2024 Die Masse lebt

Brief aus … Berlin (1991)

Bei der Suche nach einer alten Brille an Unterlagen gekommen, die man nicht finden würde, wenn man sie suchen wollte. Unter anderem einen Überweisungsschein der Schwester von 1988 im Wert von 200 DM – Musikerhilfe. Wäre damals ohne die Familie nicht so gut gegangen alles. Bruder Andreas hat auch mitgeholfen und Tante Ursel ebenso. Gesockelt hatten es die Eltern. Aber das ist Abschweifung. Eine nette! In einem Ordner sämtliche Kritiken für den Gießener Anzeiger und eben auch ein paar Briefe aus Berlin. Auf den hier folgenden vom 9.10.1991 blicke ich gerne zurück. (Neulich habe ich gehört, den Gießener Anzeiger gäbe es praktisch fast nicht mehr. Er sei total zusammengeschrumpft. Wenn man bedenkt, dass Christoph Becher, Stefan Raulf und ich dort ziemlich freie Hand hatten und viel durften, und auch Andrea Zschunke bei der Gießener Allgemeinen unterkam, und dies in Teilen als Sprungbrett für alles mögliche nutzten, so bedrückt einen das auch nicht wenig).

Berliner Küche anno 1992. Foto: Hufner
Berliner Küche anno 1992. Foto: Hufner

„Vor einigen Wochen wurden die Uhren um eine Stunde zurückgestellt: Winterzeit -in Berlin wirkte sich der amtliche Akt direkt auf die Stimmung aus, Alles wurde trübe, es regnet seitdem scheinbar fast ununterbrochen. Aber am schlimmsten ist: Der Wille, „die“ Uhren zurückzustellen, gilt hier auch für den Umgang mit der Geschichte.

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Man macht Jagd auf ein Denkmal. In rotem Granit versteinert kauert Lenin, nicht wissend, ob er gekippt, verschleppt oder gestürzt werde. Das Privatradio 100.6 und RIAS TV wollen den ungeliebten Mann vom Leninplatz (zukünftig: Platz der Vereinigten Nationen) und am liebsten aus der Geschichte verbannen. Was nicht alles Lenin auf dem Kerbholz hat: Die Gulags von Stalin, die Mauer Ulbrichts und Adenauers, die Vertreibung der Wolga-Deutschen, den Putsch gegen Gorbatschow, Bubkas Weltrekorde im Stabhochsprung. Das Gerücht, daß an Lenins Stelle Diepgen (das ist der von der Oktoberrevolution 1989) auf den Sockel gehoben werden soll, bleibt unterdessen unbestätigt. Noch steht das Lenindenkmal unter Denkmalschutz. Warum nicht einfach ein Schild vor ihm aufstellen mit der Aufschrift „Ungültig!“. Das wäre billiger und dem deutschen Bürokratismus, der sich mit politischer Unschuld, tarnt, angemessener. Schuld sind Immer die anderen, am Schuldigsten sind: die Toten.

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In den Straßen des Berliner Westens beanspruchen häufiger als früher Plakate die Aufmerksamkeit. Oft liest man: „Verehrter Kunde! Wir müssen raus. Nach 22 Jahren wurden uns die Räume des Geschäftes Soundso, daunddort, kurzfristig zum soundsovielten gekündigt. Wir bedanken uns bei unserer treuen Kundschaft.“ Anderswo kündigte man nicht, erhöht aber um 350 Prozent die Miete. Und so kommt es, daß man öfter vor verschlossenen Türen steht. Türkische Gemüseläden, Orte des Austausches und freundlichen Geplauders, des politischen’ Gezänks, verschwinden aus Kreuzberg. Man fügt sich ins Schicksal und ist es leid, immer wieder neu anzufangen. Man hat weiterzugehen, genau wie das Leben.         ‘

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Besuch im Berliner Kinomuseum, Großbeerenstraße. Museum klingt groß. Aber das Kinomuseum ist gerade ein größeres Wohnzimmer mit 30 Sitzgelegenheiten. Neulich lief „Der Student von Prag“. Der Vorführer, der im Eingangszimmer zigaretterauchend saß, nuschelte und wies widerwillig darauf hin, daß es keine Studentenkarten gebe. Vor dem Film hält er einen kurzen Vortrag: „Der Student von Prag“ sei der Durchbruch zur Filmkunst. Er erklärt technische Tricks, erzählt von der Verwirrung im Publikum, als plötzlich zweimal dieselbe Person auf einer Leinwand zu sehen war. Dabei schaut er an seinem Publikum (sechs Leute sind gekommen) vorbei. Dann wirft er das alte Vorführgerät von 1916 an. Er kommentiert alte Wochenschauen, charmant und atemlos, während die Maschine rattert und stöhnt.

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Auf der Galopprennbahn Hoppegarten wurde der „Preis der deutschen Einheit“ ausgaloppiert. Es ging um 520.000 DM. Billiger ist die deutsche Einheit nicht zu kriegen.

Martin Hufner

 

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